Monatelang irrten sie durch Europa, lebten seit März in Hamburg auf der Straße. Schätzungsweise 300 Flüchtlinge. Menschen aus Togo, Ghana oder der Elfenbeinküste, die nie die Absicht hatten, an der Elbe zu leben. Denn in Libyen hatten sie über viele Jahre gute Arbeit gefunden, waren Teil der Gesellschaft. Dann kamen der Krieg und die Bombardements durch die Nato im Frühjahr 2011. 60.000(!) Einsätze gegen zivile Ziele, u.a. gesteuert von der Bomber-Einsatzzentrale in Rammstein. Die Fachkräfte aus Westafrika mussten fliehen. Über das Mittelmeer, nach Italien, in Flüchtlingslager. Diese wurden Ende 2012 aufgelöst, die italienischen Behörden drückten den Flüchtlingen jeweils 500 Euro in die Hand plus ein Schengen-Visa und schmissen sie raus. Mit dem Hinweis, es doch Deutschland oder woanders im Norden zu versuchen. Zahlreiche Flüchtlinge kamen über Umwege nach Hamburg, verbrachten den Winter auf der Straße, in ständiger Angst vor der Kälte und Behörden. Im Juni tauchten die ersten bei der St. Pauli Kirche auf. Dort leben und übernachten seitdem etwa 80 der Flüchtlinge. Ihre Geschichte und ihr Schicksal wurde bundesweit bekannt. OXMOX hatte in der Juli-Ausgabe berichtet. Über das Engagement des Pastors Sieghard Wilm, über immer mehr Menschen, die den Flüchtlingen helfen. Und Hamburgs SPD-Regierung unter Olaf Scholz, die irgendwo zwischen hilflos, hart und unherzlich reagiert.
Wie sieht es jetzt – nach weiteren Wochen – im Garten der St. Pauli Kirche aus, wo die Flüchtlinge ihr Camp errichtet haben?
Eine Botschaft ist ein Ort, der Schutz bietet, unantastbar ist. Vielleicht auch ein Stück Sicherheit. An der St. Pauli Kirche haben sie sich ihre eigene Botschaft geschaffen – EMBASSY OF HOPE, Botschaft der Hoffnung – steht auf einem großen bunten Plakat, das über den Zelten im Garten der Kirche weht. Pastor Sieghard Wilm hat nicht nur ein großes Herz, er hat auch Mut. Und kann ein unbequemer Mann Gottes sein, wenn es nicht anders geht. So wie bei den Flüchtlingen, denen er die Kirche und den Garten als Unterkunft, als Ruheraum, anbot. Er selbst bezeichnet sie als Gäste. Und erzählt, was in den letzten Wochen geschehen ist:
„Das war am Anfang überhaupt nicht vorhersehbar, dass wir so breite Unterstützung erfahren, auch von ganz unterschiedlicher Seite. Immer noch kommen neue Ehrenamtliche dazu. Spenden, die wir dringend für den laufenden Unterhalt brauchen, kommen von überall her. Die Not der Flüchtlinge scheint die Herzen der Menschen zu bewegen. Hoffen wir, dass sich auch in den Köpfen der Politiker was bewegt.“
Doch die meisten Politiker tun sich schwer. Denn die „Embassy of Hope“ auf St. Pauli ist mittlerweile sehr bekannt. Deutschlandweit haben Medien berichtet, auch im Ausland wächst das Interesse an diesem Ort, wo Menschen einfach helfen – und sich wenig darum scheren, was offiziell in Gesetzesvorlagen steht.
Die Menschen auf St. Pauli und viele weitere aus anderen Teilen der Stadt unterstützen die Flüchtlinge. Täglich Kirche und Garten aufgeräumt und gereinigt, die Essenausgabe wird organisiert, Nachbarinnen haben einen Wäschering gegründet, damit Kleidung und Handtücher gereinigt werden können, denn das geht in einem Garten eher schlecht. Mehrere Lehrerinnen geben den Flüchtlingen Deutschunterricht und sehr oft kommt es zu Gesprächen. Sehr persönlichen. Das verbindet. Ein stilles Abschieben der Flüchtlinge, wie es sich manch ein Politiker wünscht funktioniert da nicht mehr. Die Linken-Politikerin Ulla Jelpke sagte dazu im Juli: „Die Bundesregierung und das Land Hamburg schieben sich auf dem Rücken der Flüchtlinge gegenseitig die Verantwortung zu.“
Interessant ist, was sich innerhalb der Hamburger Politik tut. Ganz anders als die CDU in der Bundesregierung stellt sich beispielsweise die CDU im Bezirk Altona, zuständig für die Flüchtlinge auf St. Pauli, auf. In einem NDR-Interview sagte Andreas Grutzeck, sozialpolitischer Sprecher der Altonaer CDU: „Das Nichtstun des Senats kommt der Verletzung von Menschenrechten gleich.“
Gemeinsam mit den Grünen, der Linken und der FDP hatte die CDU Pastor Wilm in die Altonaer Bezirksversammlung eingeladen. Sie wollten hören, was er zu sagen hat und denkt. Die unterschiedlichen Parteien fordern, dass die Flüchtlinge bleiben dürfen, auch vom Bezirk Altona finanziell unterstützt werden. Nur die SPD schweigt. In der Regierungspartei setzen sie auf Zeit, Verschiebetaktik könnte man es auch nennen. Die Touristen-Visa der meisten Flüchtlinge sind Mitte Juli offiziell ausgelaufen, die Gäste der St. Pauli Kirche wären damit „illegal“ in Hamburg. Die Stadt hatte angekündigt, die Personalien zu erfassen und jeden einzelnen Fall zu überprüfen. In der Praxis endet dies meist mit der Abschiebung.
Der unbequeme Pastor von St. Pauli wünscht sich ein pauschales Bleiberecht für die Flüchtlinge.
Doch er bleibt realistisch und redet Klartext: „Realpolitisch ist dies aber kaum vorstellbar, weil ein Hamburger SPD-Senat dann die Unterschrift des CDU-Bundesinnenministers Friedrich bräuchte – und wir sind vor der Bundestagswahl.“ Und doch gibt es Hoffnung in der „Botschaft von St. Pauli“, sagt Wilm: „Derzeit entscheiden immer mehr deutsche Verwaltungsgerichte, dass eine Rückführung nach Italien nicht verantwortet werden kann, weil die Zustände für Flüchtlinge dort katastrophal sind.“
Im Garten der St. Pauli Kirche wollen sie darauf nicht einfach warten. Die Flüchtlinge und Unterstützer haben schon viel bewegt, erzählt der Pastor weiter: „Die Stimmung ist wie in einem Sommercamp. Mit den Flüchtlingen kam ja auch der schöne Sommer nach St. Pauli. Deshalb nennen wir das jetzt ‚African Summer’. Es hat schon mehrere Solidaritäts-Parties gegeben. Es wird viel gelacht und gescherzt zwischen den afrikanischen Gästen und den Unterstützern. Manchmal kann man da die bittere Realität vergessen. Dann und wann gibt es Momente, wenn es ernst wird und still – wenn es um den tragischen Fluchtweg geht oder die ungewisse Zukunft.“
So auch auf dem Sommerfest. Es wurde gefeiert – und doch auch daran erinnert, worum es geht, so Wilm: „Sehr viele Besucher standen vor den Infotafeln der Ausstellung ‚Gebt uns unser Leben wieder’, in der es um das Schicksal der Flüchtlinge geht. Obwohl man manche Bilder fast nicht ertragen kann, verschließen die Leute nicht ihre Augen. Das ermutigt mich.“
Sieghard Wilm wird weiter für seine Gäste im Garten der Kirche da sein. Egal, wie lange sie bleiben werden. Er selbst ist nicht ohne Stolz auf das, was sie hier bislang alle gemeinsam bewegt haben: „Ich habe meine Gemeinde, meinen Stadtteil wieder neu kennengelernt. Von seiner starken Seite. Das bleibt. Da ist noch mehr drin.“
Weitere Infos zum Thema gibt es im aktuellen OXMOX und auf www.lampedusa-in-hamburg.org oder auf der Homepage der St. Pauli Kirche.
Text: Noah Schwarz / Foto: Jörg Holst