Reiseberichte haben ja den Vorteil, dass man sie nicht lesen muss. Man kann auch einfach nur die Bilder anschauen und sich daran erfreuen, denn man wird ja nicht „abgefragt“. Wer aber gerne etwas mehr wissen möchte, zu den Hintergründen der Stätten, die ich besucht habe, was die Inkas schon vor 500 Jahren wussten oder dazu, wie es mir in manchen Situationen, besonders während der Sonnenfinsternis, ergangen ist, für den/die habe ich ihn geschrieben, den Reisebericht
23. April 2019
Klick – jetzt habe ich gebucht. Ursprünglich wollte ich ja nur zur Sonnenfinsternis nach Chile, aber einer meiner Aufsichtsratsmitglieder hatte mir die Idee ins Ohr gesetzt, dass ich, wenn ich schon so nahe dran bin, doch auch noch Machu Picchu als weiteres Reiseziel in Erwägung ziehen sollte. Auf der Suche nach einer Reiseorganisation, die mich dorthin bringen könnte, bin ich dann auf Gulliver Reisen gestoßen und die haben auf ihrer Homepage auch die Galapagos-Inseln auf ihrem Programm. Der Name hat mich auf der Stelle elektrisiert, denn ich erinnerte mich sofort an jene Biologiestunde in der fünften Klasse, wo unser Lehrer Fotos von den Galapagos-Inseln gezeigt hatte. Die Fotos hatten mich fasziniert. “Da möchte ich auch mal hin“ war mein erster Gedanke als Elfjähriger gewesen, aber “Unerreichbar“ folgte als Gedanke sogleich hinterher. Und jetzt, ein paar Jahrzehnte später, mit dem Angebot von Gulliver Reisen auf dem Bildschirm, rückte es plötzlich in so greifbare Nähe, so „erreichbar“ wie ich nie gedacht hätte. Dass es logistisch bei ein paar tausend Kilometer Distanz zwischen den Reisezielen ein bisschen “schwierig“ werden könnte, war mir intuitiv klar, aber das war der Moment, einen schon vergessenen Jugendtraum zu realisieren. Wann, wenn nicht jetzt! Danke Heinz Peter für Deinen Impuls!
22. Juni 2019 – 6:30 Uhr, Hamburg
Los gehts! Das Taxi erscheint pünktlich und bringt mich ohne Probleme zum Flughafen. Was auch sonst! Wir sind ja noch in Deutschland.
22. Juni 2019 – 10 Uhr, Amsterdam
Wir sind 20 Minuten vor der geplanten Zeit angekommen. Der Weiterflug nach Panama startet erst um 12:55 Uhr, von dort dann nach gut 2 Stunden Aufenthalt weiter nach Lima. Ich sehe, dass es um 12:25 Uhr auch einen Direktflug nach Lima gegeben hätte; warum habe ich nicht den gebucht? Ich weiß es nicht mehr sicher, aber ich hatte wohl Sorge, bei einer Flugverspätung in Amsterdam diesen Direktflug nach Lima nicht mehr zu erreichen. Jetzt ärgere ich mich über meine Ängstlichkeit. Denn um 18 Uhr in Lima anzukommen, wäre natürlich viel komfortabler, als erst um 24 Uhr anzukommen. Aber wie heißt es bei Janosch: “zu spät – schon vorbeigeschwommen!“
23. Juni 2019 – 18 Uhr, Panama
Panama City erlebe ich fast wörtlich nur „im Vorbeifliegen“ mit einem Blick aus dem Fenster auf die Silhouette aus Wolkenkratzern. Naja, das ist nicht ganz richtig, wir landen schließlich dort, aber nur, um dann in den nächsten Flieger nach Lima umzusteigen. Ich denke an Janosch und “Oh wie schön ist Panama“, aber zweieinhalb Stunden Zeit, das ist nicht ausreichend, um nach dem kleinen Bären und den kleinen Tiger und der Bananenkiste Ausschau zu halten. Also vertrödle ich die Zeit ein bisschen am Flughafen. Der Weiterflug nach Lima startet pünktlich; die Schlangen vor der Pass- und Zollkontrolle sind nach meinem westlichen Verständnis etwas chaotisch, aber wir sind halt auch nicht mehr in Europa. Letztlich komme ich kurz vor Mitternacht in Lima im Hotel an.
23. Juni 2019 – 6 Uhr, Lima
Wenn doch bloß nicht immer dieses frühe Aufstehen wäre. Aber man soll 3 Stunden vor dem Abflug am Flughafen sein und dieses Gewusel, das ich gestern Abend erlebt habe, macht mir diese Notwendigkeit verständlich. In Quito komme ich am Nachmittag um 15 Uhr an. Das ist schon wieder zu spät für einen Weiterflug zu den Galapagos-Inseln. Also gibt es eine Stadtbesichtigung, zwei Kirchen und ein schönes Abendessen mit Blick in die untergehende Sonne.
24. Juni 2019 – 7:45 Uhr, Flughafen Quito
Nun bin ich, von meiner Hamburger Wohnung aus betrachtet, seit 55 Stunden unterwegs. Bis jetzt lief alles reibungslos und auch ohne innere Anspannung. Wie ich jetzt aber am Schalter für das Visum für die Galapagos-Inseln in der Schlange anstehe, bemerke ich zum ersten Mal während der Reise eine innere Anspannung – Vorfreude! Ja, das ist es: Vorfreude!
24. Juni 2019 – 12:30 Uhr, Isla Santa Cruz, Galapagos
Gleich nach der Ankunft auf Santa Cruz, nach ungefähr 60 Stunden Reisezeit, beginnt die Tour – ich bin offenbar heute der einzige Ankömmling. Noch mit dem Koffer auf der Ladefläche des Trucks besuche ich mit dem Fahrer, der mich vom Flughafen abgeholt hat, einen Regenwald. Die „Cracked Craters“, die der Regenwald seit langem überzogen hat, sehen schon beeindruckend aus. Ich erfahre, dass es sich nicht um Einschläge von Meteoriten handelt, sondern um riesige Luftblasen aus der Zeit der heißen Lava vor ein paar Milliarden Jahren, die dann beim Abkühlen erstarrt ist und irgendwann ist die dünne Decke von den Temperaturspannungen eingekracht; das erklärt dann auch den Namen. Nach dem Regenwald geht es zu einem Schildkrötenreservat. Wir werden darauf aufmerksam gemacht, wenigstens 2m Abstand zu den Tieren zu halten. Das ist (eigentlich) auch meine feste Absicht. Aber als ich einmal beim Suchen nach einer besonders geeigneten Position für ein Foto ein paar Meter rückwärts laufe, werde ich plötzlich durch ein Fauchen gestoppt. Ich stehe neben einem dieser Urtiere, keinen Meter mehr entfernt. Die Frage, für wen das jetzt noch glimpflich ausgegangen ist, will ich nicht weiter verfolgen oder gar probieren. Als letzter Spot des Tages steht noch ein Lavatunnel an. Auch diese Röhre, die sich immer weiter ins Innere des Berges windet und verengt, ist durch eine Luftblase aus der Zeit des heißen Lava entstanden. Nach 700 oder 800 m Weg in kärglicher elektrischer Beleuchtung kehre ich um, es kommt ja nichts Neues, es wird nur etwas unbequemer.
25. Juni – 6:50 Uhr
Das Frühstück sieht “sehr sehr übersichtlich“ aus. – Eine Karaffe mit Orangensaft, ein Kaffee mit Erdbeerjoghurt und zwei verschiedene Sorten Crunches. Ich frage mich, was ich nehmen muss, damit ich möglichst viele Kalorien von hier auf den Trip mitnehme? Der Orangensaft schmeckt super, ich trinke gleich drei Gläser davon. Aber dann gibt es doch noch aus der Küche einen Teller mit Früchten, einen Teller mit Käse und vier Scheiben Wurst. Jedenfalls genug Kalorien, um in den Tag zu starten. Zehn Minuten vor der angesagten Zeit bin ich um 7:40 Uhr am vereinbarten Treffpunkt für den Tagestrip. Aber um 7:50 Uhr kommt niemand und um 8:15 Uhr ist auch noch niemand da, außer einer Frau aus Portugal, die genau wie ich seit 7:40 Uhr mit mir wartet. Irgendwie schaffe ich es, den Tour-Operator anzurufen, der mir in aller Seelenruhe erklärt, dass er in 25 Minuten da sein wird. “Spanische Pünktlichkeit“ denke ich zunächst. Aber des Rätsels Lösung liegt ganz woanders: zwischen dem Festland von Ecuador und den Galapagos-Inseln gibt es noch einmal eine weitere Zeitverschiebung von einer Stunde und die wird am Handy nicht angezeigt – weder bei mir noch bei der Frau aus Portugal. Man soll sich nicht immer auf die Technik verlassen. Dann hätte ich ja sogar mal eine Stunde länger schlafen können! Ab 7:30 Uhr füllt sich der Platz dann doch mit weiteren Menschen, die an der Tour teilnehmen und sich offenbar nicht auf die Handytechnik verlassen haben, sondern auf ihre Armbanduhr. Mit dem Boot geht es zur Insel North Seymur. Als wir auf der Insel ankommen, werden wir von einem Seelöwen auf den Natursteinstufen begrüßt. Der macht überhaupt nicht die geringsten Anstalten, sich auch nur 1cm vom Fleck zu bewegen, aber gottseidank liegt er uns nicht im Weg, so dass wir die Insel leicht betreten können. Die Vielfalt und Exotik der Tiere kann ich mit Worten nicht beschreiben. Mein Biologielehrer hatte recht – es ist in Wahrheit nur noch viel schöner als auf den Bildern. Die Wege für die Menschen sind fast unsichtbar mit natürlichen Steinen gesäumt und der Guide wacht mit Argusaugen darauf, dass sie auch von niemanden überschritten werden. So sind die Tiere manchmal ein paar Meter entfernt in ihrem geschützten Bereich und mal liegen sie unmittelbar neben oder gar auf dem Weg und gefallen sich als Fotomodell mit den Menschen. Da es keine sichtbaren Begrenzungen gibt, hat man immer das Gefühl, mittendrin zu sein. Alles andere können nur die Fotos ausdrücken und auch die nur eingeschränkt, denn man kann mit einem Foto ja nur optische Dinge wiedergeben, aber nicht das Gefühl, ein bisschen im Paradies zu sein. Nach zwei Stunden sind wir wieder am Ausgangspunkt und gehen zurück aufs Schiff. Während des Mittagessens fahren wir zur einer anderen kleinen Insel, um Flamingos zu sehen und zu schnorcheln. Das Schnorcheln war auf meinem Tagesplan nicht angegeben und so habe ich den Unterwasser-Case für meine GoPro nicht dabei – das werde ich noch bereuen. Die Flamingos haben leider nicht so lange auf uns gewartet, aber ein Pelikan grüßt freundlich von seinem Felsen herab und es gibt jede Menge dieser feuerroten und manchmal orangefarbenen Krebse. Einer will mir über den Fuß laufen und ich will es ausprobieren und zulassen, aber als er gerade sein erstes Bein auf meinen großen Zeh setzt, zucke ich reflexartig und erschrecke damit das Tier, welches wegspringt – wieder eine Gelegenheit verpasst! Das Schnorcheln ist zunächst völlig unspektakulär. Nichts, was ich nicht beim Tauchen schon unzählige Male gesehen habe. Und dann ist sie plötzlich da: im felsigen bewachsenen Untergrund, vielleicht 20-30cm unter der Wasseroberfläche, grast eine Wasserschildkröte, vielleicht 70cm groß. Meine Gegenwart nimmt sie mit Nichtbeachtung zur Kenntnis. Mal werden wir beide von einer Welle ein bisschen nach links oder nach rechts gespült. Alle 2-3 Minuten auftauchen und dann weiter futtern ist ihr Programm. Drei oder viermal kommt sie mir beim Fressen so nahe, dass sie mich mit ihren Füßen berührt. Ärger – warum habe ich bloß den Unterwasser-Case für die GoPro im Hotel gelassen? Einmal stecke ich bei ihrem Auftauchen auch meinem Kopf über Wasser – wir schauen uns aus nächster Nähe an, aber ich bin offenbar vollkommen uninteressant für sie, was ja auch etwas Gutes hat.
26. Juni 2019
Um 5:10Uhr aufstehen – heute geht es zur Insel Isabella mit einer Übernachtung dort. Ich packe nur ein paar notwendige Sachen in den Rucksack – auf jeden Fall den Unterwasser-Case, denn heute ist auch auf meinem Plan Schnorcheln angesagt – und lasse den Koffer im Hotel. Die zweieinhalbstündige Überfahrt mit dem Schnellboot ist bei dem harten Wellenschlag für manche der Passagiere eine Tortur. Ein junger Mann kann sich von drinnen gerade noch nach draußen retten, stolpert und fällt zwischen die draußen sitzenden Passagiere gerade noch so, dass er es es schafft, seinen Kopf noch über die Reling zu schieben. Bei dem hübschen Mädchen, das neben ihm saß, hat er damit seine Chancen verspielt, denn die flüchtet zu mir oder besser auf den schmalen Platz, der neben mir auf der Bank noch frei ist. Sie ist aus Chicago und mit ihren Eltern und zwei Schwestern hier. Beim Aussteigen lerne ich dann auch noch die Mutter kennen, eine Russin und es zahlt sich aus, dass ich jahrelang in Hamburg bei meinem russischen Italiener in den Colonnaden zu Mittag gegessen habe: „Mne priatno swami poznakomiza“ ist einer der wenigen Sätze aus meinem Repertoire der russischen Sprache, aber der reicht hier gleich für ein paar Sympathiepunkte. Sie wird mich abends im Restaurant, wo wir uns zufällig wieder begegnen, nochmals sehr freundlich grüßen. Nach der harten Überfahrt geht es erst einmal ins Hotel, wo ich meinen Koffer ins Zimmer werfe. Um 12:45 Uhr werden wir vom Hotel zum Schnorcheln abgeholt, aber vorher habe ich Hunger. Das Restaurant Isabella hat die Gerichte in drei Sprachen auf der Speisekarte: Spanisch, Englisch und Deutsch. Wir Deutschen sind wohl doch immer noch Weltmeister im Reisen.Mit einem Boot geht es zu einer der ganz kleinen Inseln. Bevor es zum Schnorcheln ins Wasser geht, gibt es eine kleine Tour über die Insel und wir sehen neben den unzählig vielen Iquanas auch Haie, die in einer kleinen Bucht ihren Mittagsschlaf im seichten warmen Wasser halten, bevor es bei Flut für sie wieder auf die Jagd geht. Die Schnorcheltour hat eine neue Überraschung für mich bereit. Anders als gestern gibt es heute keine Neoprenanzüge an Bord, die man leihen könnte. Ich habe schon gehört, dass das Wasser nicht sonderlich warm sein soll, aber das will ich mir natürlich trotzdem nicht entgehen lassen. Also muss die Badehose ausreichend Wärme spenden. Tut sie aber nur bedingt und nach vielleicht 30 Minuten schwimme ich mit schon richtig kalten Fingern zur Ausstiegsstelle zurück. Dass einmal die Vernunft über meine Begeisterung siegen kann, ist für mich auch eine neue Selbsterfahrung. Hier gab es aber auch nicht besonders viel zu sehen, wenn man es mit Tauchen vergleicht. Gleich nach der Rückkehr im Hotel miete ich mir im Geschäft gegenüber einen Ganzkörper-Neoprenanzug, denn morgen soll das Wasser noch deutlich kälter sein. Der bereitet maximale Wärme, aber auch maximalen Auftrieb und das wird mir am nächsten Tag noch ein bisschen hinderlich sein.
27. Juni 2019
Um 7:20 Uhr ist Abfahrt zur Insel Tuneles – das soll der beste Spot zum Schnorcheln auf den ganzen Galapagos-Inseln sein. Auch hier gibt es zunächst eine kleine Landtour. Neben den vielen Iguanas erleben wir, wie zwei Blaufußtölpel-Männchen um ein Weibchen buhlen. Einer ist schon näher an ihr dran, aber der andere will ihm den Platz noch streitig machen und zeigt sich der Dame mit aufgestellten Flügeln von seiner schönsten Seite. Die schaut aber eher desinteressiert – so leicht scheint sie jedenfalls nicht zu haben zu sein. Dann zeigt auch das andere Männchen, dass es bei diesen Potenzattributen gut mithalten kann. Als wir nach einer Rundtour die Insel verlassen, schaut die Dame immer noch genauso unentschieden, wie am Anfang. Vielleicht hat sie sich ja längst für einen ganz anderen Prince Charming entschieden, der bereits woanders das Nest baut? Nicht nur die Tierwelt hier ist beeindruckend und exotisch, auch die vielen kleinen Lavainselchen, die vom Wasser umgeben und manchmal noch durch natürliche Lavabrücken verbunden sind, vermitteln einen den Eindruck, wirklich in einer anderen Welt zu sein. Was das Schnorcheln betrifft, wurde nicht zu viel versprochen. Meine Frage nach einem Bleigürtel an Bord blieb erfolglos, die gibt es nicht. So bleibe ich mit null Anstrengung und ohne notwendige Bewegung an der Wasseroberfläche, weil der Neoprenanzug viel Auftrieb gibt. Neben der bunten Fischwelt sind es die großen Wasserschildkröten, denen man auch hier unglaublich nahekommt. Man soll zwar wenigstens 2 m Abstand halten, aber was kann ich tun, wenn ich bewegungslos und fasziniert auf dem Wasser liege und sie kommt mir bis auf 5cm nahe? Irgendwann muss ich weiter, denn die Gruppe hat sich inzwischen schon ein Stück entfernt. Natürlich nehme ich auf dem Weg dorthin mit der Kamera alles mit, was mir begegnet. Haie – unter dem Lava-Torbogen liegen in einer Grotte zwei Haie, sagt unser Guide. Runter tauchen kann ich nicht, das habe ich schon zuvor probiert, da ist der Auftrieb des Neoprenanzuges zu groß. Aber wo ein Hai ist, ist auch ein Weg. Ich bekomme das untere Ende des Torbogens unter Wasser zufassen, ziehe mich mit beiden Händen unter Wasser und klemme mich mit dem Hinterkopf irgendwie in den Torbogen ein, so dass ich nicht wieder nach oben drifte. Das gelingt schnell, denn der Fels ist rau und hat viele Unebenheiten und Zacken. Bequem ist es nicht, eher schmerzlich, aber das ist egal, denn knapp 2 m schräg unter mir liegen die Kerle im Sand. Dummerweise hat sich die Kamera inzwischen selbst ausgeschaltet und das Einschalten kostet wieder ein paar Sekunden Luft bis ich Fotos machen kann. Glücklicherweise gibt es kaum Strömung, aber dennoch spüre ich jede Welle, die meinen Körper bewegt, an den Steinzacken an meinem Hinterkopf. Nein – noch nicht auftauchen, ein paar Sekunden kann ich die Luft noch anhalten. Langsames Ausatmen würde mir nochmals ein paar Sekunden geben, aber die Luft in meiner Lunge brauche ich, um später beim Auftauchen den Schnorchel auszupusten, denn der ist voll Wasser und ich muss ja anschließend weiter atmen können. Also muss ich meinen Luxus-Aussichtsplatz viel zu früh aufgeben – aber die beiden Burschen sind im Kasten.
28. Juni 2019
Der Sierra Negra ist zuletzt vor elf Monaten ausgebrochen. Der Besuch des Vulkans fällt fast ins Wasser, denn Nebel verhindert auf dieser Höhe heute fast vollständig die Sicht. Dennoch gerät man ab und zu ins Schwitzen, denn die Steigungen sind teilweise beachtlich und wenn dann noch die Sonne durch den Nebel kommt, wird es ganz schön warm. Aber das hält uns nicht zurück, es geht noch knapp eine Stunde weiter und wir werden tatsächlich mit einem wunderbaren Blick aufs Meer belohnt. Jetzt liegen wieder zwei Tage Travel vor mir, zurück über Quito mit einer Übernachtung dort, dann über Lima nach Santiago de Chile. Wegen der kurzen Wege und der schnellen Erreichbarkeit der Autovermietungs-Station am nächsten Morgen habe ich mir in Santiago, wo ich am übernächsten Tag um 22:30 Uhr ankomme, ein Hotel gleich am Flughafen genommen. Das mit der Nähe zum Flughafen ist mir in der Tat gelungen, ich habe das Gefühl, dass mein Zimmer auf der Verlängerung der Startbahn liegt und der Flugbetrieb endet nicht etwa um 24 Uhr. Da helfen auch die Ohrstöpsel nur bedingt. Ich bin halt kein Profireiseplaner sonst hätte ich mir ein paar Flüge und Übernachtungen an unterschiedlichen Zwischenstopps sparen können.
1. Juli 2019
Das Shuttle von Sixt Budget bringt mich und noch ein paar andere Hotelgäste zur Vermietungsstation; dort läuft es mit deutscher Präzision: Mietvertrag unterschreiben, Navi aktivieren und los geht’s; Richtung Norden nach La Serena – an manchen Abschnitten hat man einen sehr schönen Blick auf den Pazifik zur linken und auf der rechten Seite die Anden. Jetzt sind es noch etwas mehr als 30 Stunden bis zur Sonnenfinsternis. Als ich nach ein paar Stunden am Nachmittag in La Serena ankomme, erinnert mich der Straßenverkehr und der Umgang mit Fußgängern an den Spruch “Motorkraft vor Muskelkraft“; diese Regel hat es, glaube ich, in den fünfziger Jahren auch in Deutschland gegeben. Die Pension ist eine ganz einfache Unterkunft, aber das stört mich nicht. Am Anfang habe ich nur ein bisschen Schwierigkeiten, in dem verwinkelten Treppenhaus den richtigen Zugang zu meinem Zimmer zufinden. Es ist ein Zimmer nicht mit Aussicht, aber dafür ohne Heizung. Aber die letzten noch verfügbaren Zimmer der guten Hotels hatten “Sonnenfinsternis–Preise“ im Bereich von 400-800 € pro Nacht und das war mir doch zu viel. Nachts um 3:20 Uhr wache ich auf – es ist doch ziemlich kalt in den Anden – und ziehe mir noch ein zweites Paar Socken und einen zweiten Schlafanzug an. Ein Schlafsack wäre noch besser gewesen. Es gefällt mir trotzdem, die Eigentümerin und ihr Mann und die Bediensteten sind einfach sehr nett.
2. Juli 2019, Sonnenfinsternis – La Serena und später irgendwo in den Anden
Als ich aufwache und duschen will, kommt nur kaltes Wasser aus dem Wasserhahn; daran ändert sich auch nichts, wenn ich das Wasser länger laufen lasse. Eigentlich dusche ich ja immer kalt, aber nur in der letzten Minute und nicht gleich von Anfang an. Also fällt Duschen heute aus. Nach dem Frühstück habe ich noch etwas Zeit und besuche noch das örtliche Museo Archeologico. Aber um 12:15 Uhr fahre ich planmäßig los, Richtung Viacuna und damit komme ich der Zentrallinie der Sonnenfinsternis, die sich etwas nördlich von La Serena befindet noch ein Stückchen näher. Gefühlt alle 500 m steht ein Polizist mit einer Enduro am Straßenrand; das verleitet einen nicht dazu, die zulässige Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten – mit denen möchte ich mit meinen bescheidenen Cerveza-Spanischsprachkenntnissen keine Diskussion führen müssen. Ich missachte die gelegentlichen Plakate und Angebote am Straßenrand, auf einem nahen Parkplatz oder Wiese einen Platz zur Beobachtung der Sonnenfinsternis einzunehmen. Nein – ich will noch etwas nördlicher, noch näher an die Zentrallinie ran, denn das bringt ein paar mehr Sekunden an Finsternisdauer. Nach gut einer Stunde biege ich links ab in einen befestigten Feldweg. Nach 2 km dann halbrechts, jetzt ist der Feldweg nicht mehr ganz befestigt, aber die Richtung nach Norden zur Zentrallinie stimmt weiterhin – weiter geht’s! Leider wird die Schlucht immer enger und damit rückt die Sonne im Südwesten immer ein bisschen näher an die Spitzen der Berge und es sind immerhin noch mehr als zwei Stunden bis zur Sonnenfinsternis, also noch mal mehr als 30°, die die Sonne noch sinken wird. Mit diesem Problem hatte ich nicht gerechnet. Wie viel sind 30°? Wird die Sonne dann überhaupt noch sichtbar sein oder schon hinter den Berggipfeln verschwunden? Sonnenfinsternis hinter den Bergen – das wäre mehr als ärgerlich. Wenn ich doch bloß einen Winkelmesser dabei hätte! Aber ich finde in den Reiseunterlagen ein Blatt Papier – das einmal diagonal falten so dass die Kanten aufeinander liegen ergibt 45°, noch einmal diagonal falten ergibt 22,5° und wenn ich jetzt die 22,5°-Linie und die 45°-Linie übereinander lege und falte, hat die Knickkante ungefähr 34°, genau das, was ich wissen muss. Mein selbst gebastelter Spezialwinkelmesser sagt mir, dass das hier mit der Beobachtung der Sonnenfinsternis zu knapp wird. Hätte ich vielleicht doch eines der Parkplatzangebote am Straßenrand wahrnehmen sollen? Jetzt könnte ich noch zurück, aber in etwa 20 Minuten habe ich wohl den “Point of no Return“ erreicht. “Das Glück gehört dem Tüchtigen“ hat meine Oma immer gesagt und ich entscheide mich dafür, dass meine Oma Recht hat und ich Glück haben werde. Ich fahre ein Stück zurück und dann rechts in einen Feldweg der mehr Feld als Weg ist. Und nach 3 km sehe ich ihn: das Tal ist breiter geworden und dort ist ein Hügel, der so hoch ist, dass ich von dort wegen des Sonnenstandes keine Sorge mehr haben muss. Leider ist der Weg nach oben aber so steil, dass mein BMW mit den schmalen Reifen das nicht packt. Also muss ich das Auto hier irgendwie auf gut halber Höhe abstellen und zwar so, dass das Autodach eben ist, denn ich brauche das Dach als Abstellfläche für die kleinen Fotostative.Da kommt unten noch ein Auto, das mir in der Staubwolke gefolgt ist, aber der versucht es erst gar nicht, den Weg hoch zu fahren. Doch nach 5 Minuten sehe ich genau dieses Auto von der anderen Seite oben am Hügel erscheinen. Der Weg außen herum scheint einfacher zu sein und jetzt will ich natürlich auch auf den höchsten Punkt. Also alles, was ich schon ausgepackt hatte, wieder zurück ins Auto, vorsichtig den steilen Weg runter und außen herum um den Hügel und fünf Minuten später bin auch ich ganz oben. So tief kann die Sonne in eineinhalb Stunden nicht mehr sinken. Meine Oma hat wieder einmal Recht gehabt. Ich baue die Kameras auf, noch ist nichts zu sehen. Nur die Tiere sind still geworden, alles ist still! Dann um 15:53 Uhr der erste Kontakt: der Mond berührt die Sonnenscheibe. Es sieht so aus, als ob eine Maus ein winziges bisschen von der Sonne abgeknabbert hätte. Und dieser Mausbiss wird minütlich immer größer, immer größer … Nach etwa 20 Minuten ist die Hälfte der Sonnenfläche bedeckt. Ich bin mit den beiden Kameras beschäftigt und versuche manuell zu korrigieren, was die Elektronik bei diesem extremen Kontrast von hell und dunkel nicht automatisch verarbeiten kann. Den letzten Moment der Verdunkelung kann die Elektronik gar nicht mehr verarbeiten, aber ich bin dennoch zufrieden. Später werde ich feststellen, dass die letzte Sekunde vor der Verdunkelung mit dem Diamantringeffekt doch ganz gut auf dem Video eingefangen worden ist. Jetzt ist es um 16:39 Uhr in 2-3 Sekunden schlagartig dunkel geworden. Nicht so dunkel wie bei der Sonnenfinsternis vor zwei Jahren in USA, aber doch „dunkel“. Die Sonne steht wie ein schwarzes Loch am Himmel und nur ein paar wenige Lichtstrahlen biegen sich um den Mond, der damit einen ganz dünnen weiß-goldenen Ring als Umrandung erhält. Diese Ruhe – diese Stille – diese Andacht! So als ob der liebe Gott der Erde das Licht ausgeknipst hat. Das ist erst mal Zeit für ein kleines Gebet. Dann verändere ich abwechselnd Brennweite und Blende an der Kamera – ich weiß ja selbst nicht, welche Einstellung die besten Fotos erzeugt. Knapp zwei Minuten habe ich Zeit. Und dann ist er da, der Moment – diese Zehntelsekunde – wo der allererste Sonnenstrahl wieder hinter dem Mond hervorkommt. Es erinnert mich – wieder – an das Bild von Michelangelo “Der Finger Gottes“, so als ob der liebe Gott der Erde sagt: “Ich lasse Euch doch nicht im Stich!“ Und ich muss wie vor zwei Jahren wieder schlucken und bekomme Tränen in die Augen – es ist mehr als berührend, es ist ergreifend. Man kann es nicht mit Worten beschreiben, man kann es nicht mit Fotos oder Videos darstellen – man kann die Intensität dieses Moments nur fühlen. Es ist, wie wenn man ein kleines bisschen an der Schöpfung teilhat und ich weiß, dass ich an der nächsten Sonnenfinsternis, am 14. Dezember 2020, wieder teilnehmen will. Nach ein paar Sekunden ist die Erde wieder im alten Licht und alles sieht so aus, als ob nichts gewesen wäre. Zwar dauert es jetzt noch rund 40 Minuten, bis sich Sonne und Mond wieder voneinander trennen, aber das ist nach dem Erlebten nicht mehr spektakulär. Nach ein paar Minuten beginne ich, meine Sachen einzupacken und fahre zurück zur Landstraße. Dort reihe ich mich nach gut 20 Minuten Feldweg in eine unendlich lange Schlange ein – es waren offenbar außer mir noch ein paar andere zur Sonnenfinsternis hier. So brauche ich für die Strecke nach Ovalle statt der normalen eineinhalb Stunden heute viereinhalb Stunden und komme dort um 22 Uhr an. “Biegen Sie jetzt rechts ab“, sagt mir die freundliche deutsche Stimme aus dem Navi; aber das ist eine Fußgängerzone. In Chile scheinen die Regeln aber anders zu sein, denn in La Serena habe ich auch beobachtet, dass ein Auto durch die Fußgängerzone gefahren ist und so biege ich unerschrockenrechts ab, denn mein Hotel ist nach 20 m ja auch gleich auf der linken Seite. Die Regeln sind aber in Chile doch nicht anders, denn ich habe noch nicht einmal den Motor abgestellt, schon bekomme ich doch noch Kontakt zur chilenischen Polizei. Zwei junge Typen auf dem Fahrrad versuchen mir klarzumachen, dass ich da nicht fahren und auch nicht stehen darf, wo ich jetzt gerade bin – halt Fußgängerzone. Mein bescheidenes Touristen-Spanisch auf Level 1 hilft mir jetzt, ohne eine Strafe davonzukommen. Sie zeigen mir sogar noch, wo der Hotel-Nebeneingang um die Ecke ist und ziehen dann mit ihren Fahrrädern weiter. Ich bin noch so erfüllt von dem Erlebten, dass ich nach dem Abendessen unbedingt noch einmal in die Berge fahren will, um den Sternenhimmel zu fotografieren. Einen guten Platz in den Anden, wo alles richtig dunkel sein müsste, habe ich auf der Karte schon ausgespäht. Leider versperrt mir auf dem letzten Kilometer ein Fluss, den man auf einer Furt durchqueren müsste, den Weg. Ich kann zwar drüben das andere Ufer im Scheinwerferlicht erkennen, aber ich bin nicht sicher, wie tief das Wasser in der Mitte sein wird. Nur eines ist sicher: wenn ich hier draußen abseits jeder Zivilisation stecken bleibe, weil das Wasser einen Kurzschluss im Auto erzeugt, findet mich vor morgen Früh keiner. Und es ist schon verdammt kalt hier. Also wieder rückwärts raus aus dem Wasser, drehen und einen anderen Spot zum Fotografieren suchen. Den finde ich auch. Alles ist schwarz und ich fotografiere mit Belichtungszeiten von 40-60 Sekunden, bis mir die Finger abfrieren. Ich kann ja schon am Kamera-Display sehen, wie die Bilder werden und finde, das ist nach der Sonnenfinsternis ein weiterer Höhepunkt des Tages. Als die Finger unerträglich kalt geworden sind, höre ich auf und fahre zurück. Der Parkplatz in Ovalle ist 300 m vom Hoteleingang entfernt und auf dem Weg dorthin höre ich aus einer Kneipe Musik. Dieses wunderbare Erlebnis heute will ich noch mit einem Glas Wein feiern und setze mich an die Bar neben zwei junge Typen und beginne, noch bevor der Kellner erscheint, meine Fotos mit den Nachtaufnahmen anzuschauen. Wein gibt es hier nicht, also bestelle ich Bier. Es dauert nur zwei Minuten, da stellt sich eine junge Dame, die für die kalte Jahreszeit viel zu knapp bekleidet ist, rechts neben mich, legt ihre Hand auf meinen rechten Oberarm und redet auf mich ein. “Non ablo Español“, sage ich, ich will doch in Ruhe meine Fotos ansehen, aber das interessiert sie nicht, sie redet einfach weiter – einen Sprachkurs will sie aber offenbar auch nicht mit mir machen. Als ich sie aber auch nicht zu einem Drink einlade, zieht sie nach ein paar Minuten dann doch von dannen und ich kann mich wieder meinen Bildern auf der Kamera widmen. Die Nachtaufnahmen sind wirklich super geworden und das will ich mit einem weiteren Bier feiern. Da bemerke ich, dass mein Handy weg ist – weg! Ich hatte es in die rechte Jackentasche gesteckt, da bin ich ganz sicher. Vorsichtshalber durchsuche ich alle Taschen – es ist nicht da. Hat die Frau mich mit ihrem Gerede vielleicht nur ablenken wollen und das Handy unbemerkt an sich genommen? Es ist ja nicht so sehr der materielle Wert, sondern ich muss täglich Kontakt mit meinem Büro halten und E-Mails abrufen können. Klar könnte ich mir morgen ein neues kaufen, aber ich kann es im Umfeld der chilenischen Technik bestimmt nicht alleine einrichten – das kann ich ja nicht einmal in Deutschland alleine. Soll ich zur Polizei gehen? Diesen Gedanken gebe ich schnell auf bei der Erinnerung an meine Kommunikationsfähigkeit mit den Polizisten auf dem Fahrrad. Ich könnte ja nicht einmal meine Vermutung formulieren. Das Beste ist wohl, ich versuche, sie zu bestechen und ihr ein „Lösegeld“ zu bieten, damit sie mir das Handy zurückgibt. 50.000 Peseten denke ich, mehr kriegt sie auf dem Schwarzmarkt auch nicht für ein Handy, das mit einem Fingerabdruck gesichert ist. Und damit hätte ich kurzerhand alle Probleme erledigt. Aber sie ist verschwunden. Nach 10 Minuten erscheint sie doch noch einmal, ich bitte Sie zu mir und versuche ihr mein Anliegen zu erklären. “mio telefono …“ beginne ich und das ist das Einzige, was ich auf versuchtem Spanisch herausbringe. Sie denkt, ich frage nach ihrer Telefonnummer und bietet mir stattdessen einen Besuch in ihrer „casa“ an. Ich bemerke, dieses „Gespräch“ (wenn man es wirklich so bezeichnen will) läuft in die falsche Richtung. Wie komme ich da jetzt raus? Ich sage einfach kein Wort mehr, das wirkt, denn nach 2 Minuten ist sie wieder verschwunden. Aber ich habe mein Telefon nicht mehr und damit ist mir die Idee, meine schönen Bilder mit einem weiteren Bier zu feiern, total vergangen. Soll ich noch einmal zum Auto gehen? Aber ich kann mich doch genau erinnern, da lag nichts mehr auf den Sitzen. Trotzdem “die Hoffnung stirbt zuletzt“ und um halb zwei Uhr klingele ich den Parkwächter noch einmal aus dem Schlaf. Mit einem Trinkgeld von 1000 Peseten ist er mir dann aber schnell wohlgesonnen. Als ich das Auto öffne, sehe ich gleich, dass ich recht hatte, da liegt nichts mehr auf den Sitzen – ich wusste es doch! Aber dann setze ich mich intuitiv ins Auto und tatsächlich, ich finde es rechts im Fußraum, dort ist es wohl runtergefallen. So wird die Nacht dann doch noch eine geruhsame.
3. Juli 2019, Ovalle – Valparaiso
“Buenos Dias“, sage ich gut gelaunt, als ich am nächsten Morgen den Frühstücksraum des Hotels betrete. Ein einzelner Herr an einem Tisch antwortet in perfektem Deutsch “Einen wunderschönen guten Morgen!“. Mit meiner spanischen Aussprache ist es also nicht weit her. Herr Koch stammt aus der Eifel und ist Profifotograf. Eigentlich für Eisenbahnen, aber diesmal ist auch er wegen der Sonnenfinsternis hierhergekommen. Und er erzählt mir, dass er während der Verdunkelung so aufgeregt war, dass er vergessen hat, den Verdunklungsfilter abzunehmen. Er hat also keine einzige brauchbare Aufnahme und findet meine Aufnahmen zum Teil sehr gelungen – ich auch! Und wenn ein Profifotograf während der Sonnenfinsternis vor Aufregung vergisst, seinen Verdunkelungsfilter abzunehmen, dann war meine emotionale Ergriffenheit vielleicht ein bisschen verständlich. Herr Koch gibt mir einen Tipp für Valparaiso: die schrägen Aufzüge, die seien doch weltberühmt. Nach dem Frühstück wähle ich nicht den schnellen Weg über die breiten Straßen und Autobahn, sondern nehme erst mal 50 km auf der Routa 605 durch die Anden. Es ist eine total gottverlassene Gegend und ich fühle mich so, als ob ich wie Christoph Kolumbus der erste Europäer sei, der hier entlangkommt. Es gibt keine Dörfer, nur vereinzelt eine kleine Ansammlung von Höfen mit Ziegen, Esel und einem Bauern auf seinem Pferd. Und diese fünf spitzen Haarnadelkurven hintereinander, da heißt es wirklich vorsichtig fahren Aber dafür gibt es vereinzelt Aussichtspunkte – einfach wunderschön; dieser Blick über die Ausläufer der Anden zum Pazifik. Ich brauche mehr als 6 Stunden und als ich um 19:45 Uhr schließlich bei völliger Dunkelheit in Valparaiso ankomme, bekomme ich endlich wieder einmal ein Zimmer mit Heizung und Dusche und warmen Wasser, sogar mit Druck in der Wasserleitung! Sorry liebe Umwelt, nach drei Tagen Verzicht lasse ich das Wasser heute etwas länger laufen. Um 23 Uhr falle ich im Restaurant fast vom Stuhl, nicht vom Alkohol, sondern einfach nur von der Müdigkeit und Anspannung der letzten Tage. Das ist einer der wenigen Tage im Jahr, wo ich schon vor Mitternacht einschlafe.
4. Juli 2019, Valparaiso
Die E-Mails, die nach dem Aufstehen schon aus dem Büro in Deutschland eingetroffen sind, halten mich heute etwas länger auf. Tripadvisor empfiehlt hier das Museo und Herr Koch die schrägen Aufzüge. Also am besten beides. Ich finde einen Parkplatz nur 30 m vom Museum entfernt. Es ist durchaus interessant, aber mit Loriot würde ich sagen “sehr übersichtlich!“. Pablo, der mir im Museumskaffee einen Cappuccino macht, sagt mir, dass die schrägen Aufzüge nur 700 m entfernt seien; man kann das Auto am besten stehen lassen. Dann plötzlich karibische Musik von draußen – ist das etwa die fünfte Jahreszeit für Karneval? Nein, es handelt sich um eine Demonstration für Bildungsgleichheit, die mit Livemusik und Showeinlagen untermauert wird. Es sind Tausende, die da auf der Straße unterwegs sind, aber kein Lautsprecher ist zu sehen, keiner plärrt ins Mikrofon. „Wer eine Meinung hinter sich hat, braucht keine Lautsprecher“ – dieser Gedanke schießt mir in den Kopf. Mit unserem Büro am Jungfernstieg erlebe ich das in Deutschland ja öfter auch ganz anders. Da sind manchmal nur 20-50 Demonstranten unterwegs, die sich einen Kleintransporter mit 5000-Watt-Anlage mieten und sich damit das Recht zur Majorisierung der Mehrheit durch die Minderheit kaufen. Mir wird bewusst, dass unsere Demokratie in Deutschland teilweise auch ein bisschen grenzwertig ist. Dank der Beschreibung von Pablo und Google Maps finde ich die schrägen Aufzüge sofort. Ein interessantes Viertel tut sich auf, als ich oben aus dem Aufzug aussteige. Der äußere Eindruck lässt auf eine Mischung aus Bourgeoisie und Intellekt schließen. Ein paar Straßen weiter sehe ich das Lebensgefühl, dass hier gelebt wird, als Graffiti auf eine Steinmauer gesprüht: “We are not hippies – we are happies!“ Nachdem ich nach zwei Stunden alle Straßen erkundet habe, bekomme ich den letzten Tisch auf der Terrasse eines Restaurants mit wirklich schöner Aussicht über die ganze Stadt. „Schwein gehabt“, denke ich mir und ein kleines Deko-Schwein steht auch auf dem Tisch. Aber ich bestelle Thunfisch und hier ist endlich ein Koch, der sich traut, es nur 30 Sekunden von jeder Seite anzubraten. Es schmeckt genauso gut, wie es auf der Speisekarte aussieht und wie ich es selbst zubereiten würde. Nach diesem kulinarischen Genuss muss ich aber dann doch endlich mal zum Auto zurück. Hoffentlich hat Pablo recht und das Auto steht noch da? Ja – es steht noch da!
5. Juli 2019, Valparaiso – Santiago de Chile – Lima
Aufstehen um 7 Uhr und Koffer packen. Das Rührei ist wieder super und die anschließende Fahrt nach Santiago verläuft flüssig. Ich habe also viel Zeit denke ich mir, dann wird es aber doch eng, sowohl auf der Autobahn was die Verkehrsdichte angeht, als auch beim Blick auf die Uhr. Jetzt verstehe ich, warum mein Aufsichtsrat gesagt hat, dass man Reservezeiten einbauen muss. Aber Dank dessen erreiche ich den Flug dann doch ohne großen Stress. Der Flug nach Lima verläuft reibungslos, schnell bin ich dort durch Immigration und Zoll und bemerke, dass ich jetzt innerhalb von 13 Tagen zum dritten Mal nach Peru einreise. Davor ein ganzes Leben lang nicht einmal. Auch der Fahrer von der Reiseorganisation wartet schon auf mich und ich habe inzwischen nachgerechnet, dass ich bei besserer Reiseplanung drei ganze Tage hätte gewinnen können. Ich werde künftig also nicht mehr versuchen, dem Reisebüro Konkurrenz zu machen. Am nächsten Morgen geht es ja schon wieder weiter nach Cusco. Das Hotel liegt in Miraflores, einem sehr schönen Stadtteil, aber für meinen Geschmack zu weit von Downtown entfernt. Bei der Rückkehr von Machu Picchu werde ich für die letzten zwei Tage, die ich in Lima verbringe, ein anderes Hotel in Downtown nehmen.
6. Juli 2019, Cusco
Am Flughafen von Cusco (3300 m NN) wartet ein Fahrer mit meinem Namen auf einem Schild. Auf der Fahrt zum Hotel erklärt mir seine Tochter, dass es hier eine hohe Korruption gibt. Außerdem bekomme ich ein Päckchen mit Lutschbonbons, die gegen die Höhenkrankheit helfen sollen – ich werde davon glücklicherweise nichts bemerken. Schon eine halbe Stunde nach der Ankunft werde ich zur ersten Stadttour abgeholt, die von Ricardo, einem total engagierten Tourguide geführt wird. Am Tempel del Sol erkennt man beschämend, was die Spanier hier angerichtet haben. Andere Europäer hätten sich aber wohl auch nicht anders verhalten. Gold hatte für die Inkas keinen besonderen Wert, es hatte hier in erster Linie nur die Funktion, der Sonne als Mutter des Lebens mit entsprechend viel Reflexionsfläche zu huldigen. So waren die dicken Mauern des Tempels mit 3 cm dicken Gold beschichtet. Das alles haben die Spanier, die 1532 hier eingedrungen sind, geraubt und insgesamt rund 50.000 t Gold nach Spanien gebracht. Nach heutigem Wert sind das rund 2 Billionen Euro – in etwa das jährliche Bruttosozialprodukt Deutschlands ohne den öffentlichen Sektor. Die Kathedrale von Cusco ist die älteste Kirche Perus. Sie wurde in drei Stufen zur heutigen Größe ausgebaut und der Nebenaltar besteht aus 590 kg Silber, der Hauptaltar gar aus 1400 kg Silber. Gold und Silber hatte den Inkas nichts bedeutet, weil sie es im Überfluss hatten und somit „wertlos“ war. Wenn die Menschen Opfergaben brachten, dann in Form von Arbeit. Ricardo zeigt uns noch zwei weitere Sehenswürdigkeiten und er tut das mit solcher Begeisterung, dass man sich selbst in die damalige Zeit zurückversetzt fühlt. Leider hat er am nächsten Tag frei und wird uns nicht bei der Tour ins Heilige Tal begleiten.
7. Juli 2019, Heiliges Tal
Welch eine Freude, Ricardo erscheint doch als unser Tourguide und als ich sage “I am happy to see YOU again“ stimmt der ganze Bus mit ein. Was es doch für einen Unterschied macht, wenn man einen begeisterten Führer hat und nicht nur durch die Gegend kutschiert wird. Als ich ihn später darauf anspreche, antwortet er „It’s easy – I am happy with what I am doing“. Das verstehe ich gut, denn mir geht es ja ähnlich mit meinem Beruf und ich sage ihm, dass sein Empfinden schon von Konfuzius formuliert wurde: “Tue das, was Du liebst und Du brauchst nie mehr zu arbeiten!“ In letzter Zeit begegne ich zunehmend öfter solchen Menschen. Wir sehen terrassenförmige Ackerflächen und Ricardo erläutert uns das unterirdische Entwässerungssystem. Lagerhäuser, die auf den Fotos nur wie normale steinerne Häuser mit nur einem kleinen Fenster aussehen, waren so gebaut, dass das kalte Bergwasser darunter geleitet wurde, so dass man Kühlung von unten hatte und die Fensteröffnung auf der dem Wind zugewandten Seite sorgte für ständigen Luftzug und Trockenheit – also ein Kühlschrank aus dem 15. Jahrhundert. Auch Astronomen waren wichtig, denn die Bestimmung der Tag- und Nachtgleiche war gleichzeitig Hinweis, wie lange es noch bis zur Regenzeit bzw. Trockenheit dauert; so konnte man den günstigsten Zeitpunkt für die Aussaat und Ernte bestimmen und manche Ackerflächen sogar zweimal nutzen. Außerdem haben die Inkas schon damals Fruchtsorten gekreuzt um eine noch ertragreichere Frucht zu züchten. Mit dem so entstehenden Reichtum und Überfluss an Lebensmitteln wurden dann andere Volksstämme ohne kriegerische Handlungen an das Reich angebunden, einfach indem man ihre Unterversorgung beseitigte. Wer sich freiwillig dem Inkareich anschloss, musste keinen Hunger mehr leiden, das war eine ganz einfache Formel. So wuchs das Inkareich und war in der Blütezeit, mit Cusco als Mittelpunkt, so groß, dass die von dort sternförmig ausgehenden Pfade und Handelswege 60.000 km lang waren (richtig gelesen: 60.000 km, das ist eineinhalbmal um die Erde) – und das alles in den Anden. Ich bewundere solche intellektuellen Glanzleistungen ungemein und könnte noch viel mehr schreiben, aber ich will den Leser, wenn es überhaupt jemand bis hier geschafft hat, nicht mit weiteren Details langweilen. Es gibt ja Bücher dazu! Auf der Rückfahrt nach Cusco kommen wir noch am Verkaufsgeschäft einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft vorbei, wo örtliche Alpaca-Waren verkauft werden und ich entscheide mich für einen grauen Pullover, denn gestern Nacht war es kalt. Morgen geht es schließlich nach Machu Picchu. Um 6:10 Uhr das Hotel verlassen, das heißt wieder verdammt früh aufstehen!
8. Juli 2019, Machu Picchu
5:30 Uhr – schon wieder so früh aufstehen; das ist gar nicht meins. Deshalb habe ich auch alles bis auf die letzte Minute kalkuliert. Um 6:05 Uhr aus dem Zimmer auf den Weg zum Bahnhof, ich nehme ein Tuktuk, denn erstens gewinne ich damit 3 Minuten und zweitens muss ich heute bestimmt noch genug laufen. Unser Zug kommt pünktlich gegen 8 Uhr in Agua Calientes an. Unseren Guide, der uns in Empfang nimmt, sollen wir oben in Machu Picchu um 10 Uhr wieder treffen. Ich sehe, die Schlange für die Busse nach Machu Picchu ist riesig und bemerke, dass mein Eintrittsticket nur für die Zeit von 9:00 bis 13:00 Uhr gilt. Der Guide meint, das sei kein Problem, weil am Ausgang von Machu Picchu keine Kontrolle mehr stattfindet. Aber das ist ja nicht das einzige Problem, denn meine Zugrückfahrt am Nachmittag ist auf das Zeitfenster meines Tickets abgestimmt und wenn oben für den Bus auch wieder eine Schlange von 30 Minuten steht??? Egal – jetzt kann ich sowieso nichts ändern. Es kommt aber noch ein bisschen dicker, denn oben erscheint der Guide erst um 10:45 Uhr. Das ist für mich schon sehr beeindruckend, was hier vor gut 500 Jahren als Stadt auf einem unzugänglichen Berg errichtet wurde – so unzugänglich, dass die Spanier vor knapp 500 Jahren den Ort trotz größter Bemühungen nicht gefunden haben. Die Vorratskammern, die Tore zu deren Schließvorrichtung auch die Scharnierhalterungen aus geschliffenen Steinen gehören; das alles aber nicht aus Angst vor Feinden sondern als Schutz vor wilden Tieren. Und die astronomischen Vorrichtungen – die astronomischen Fähigkeiten der Inkas beeindrucken mich am meisten. Da ist diese schwere, flache, innen konkav gewölbte Steinplatte, die genauso positioniert worden ist, dass sie nur an zwei Tagen im Jahr von ganz links bis ganz rechts vom Sonnenlicht ausgefüllt wird, welches durch das Fenster fällt. Eine astronomische Messstation für die Tag- und Nachtgleiche am 21. März und 21. September, von der uns Ricardo schon vor zwei Tagen erzählt hat. Ausgangspunkt des Wissens für effiziente Landwirtschaft und damit Grundlage für den Ausbau der Macht und des Reiches. Von den 3000 Stufen, die es in Machu Picchu zu gibt, bin ich gefühlt 800-1000 gestiegen – in Realität waren es aber wohl nur 500-600. Seine Verspätung von heute Morgen macht der Guide dadurch wett, dass er mich an der Schlange vorbei nach vorne bringt und ich so den übernächsten Bus besteigen kann. Da reicht die Zeit unten in Agua Calientes bis zur Abfahrt des Zuges sogar noch, um ein Trout Cevice, das peruanische Nationalgericht, zu bestellen. Ich wähle zwar „not spicy“, muss aber dennoch in Andacht vor der Schärfe der Chili ein paar Sekunden verharren und durchatmen, selbst meine Brille beschlägt von dem Schweißausbruch, den es verursacht. Es schmeckt aber super und es ist klar, dass der Koch von mir nichts zurückbekommt.
9. Juli 2019, Moroy und Maras
Heute besuchen wir zunächst ein Dorf mit Alpaca-Weberinnen. Ich finde die Färbetechnik interessant, wie man aus Früchten und Gemüsen einzelne unterschiedliche Farben zum Einfärben der Wolle herstellt. Zunächst ist die Farbe des Stoffes blau, doch kaum hat die Frau es mit einer salzigen Flüssigkeit begossen, wandelt es sich zu einem rötlichen Ton. Ich habe zwar schon einen Pullover, der mir in den letzten beiden Nächten sehr geholfen hat und den ich auch jetzt trage, aber einen Schal kaufe ich mir trotzdem noch; das Leben ist karg hier in einem kleinen Dorf auf 3550 m über dem Meeresspiegel und das kann man überall sehen. Aber für den traditionellen bunten Poncho und die Mütze, mit denen ich mich zumindest fotografieren lasse, für die kann ich mich nicht entscheiden. Dann besuchen wir diese kegelförmigen Pflanzenversuchsanstalten, von denen Ricardo schon vor zwei Tagen erzählt hat. Sie sind ursprünglich durch einem Meteoriteneinschlag entstanden. Sie wurden von den Inkas zu Pflanzenversuchsanstalten umgebaut. Jede Terrasse hat ihr eigenes Bewässerungssystem und unterschiedlichen Boden. So konnte man erreichen, dass die Temperatur in der untersten Ebene des Kegels um 15° (!) Celsius höher war als auf der obersten Terrasse. Man konnte also auch mit tropischen Pflanzen Versuche machen und die Fruchtbarkeit der Böden immer weiter steigern. Wenn man es dann tatsächlich vor sich sieht, bekommt man noch einmal einen anderen Eindruck und noch viel mehr Respekt vor der intellektuellen Glanzleistung. Letztes Ziel unserer Touren in der Region von Cusco ist die Saline in Maras. Die staubige steile Schotterstraße dorthin lässt uns das harte Leben der Salzbauern zumindest ein bisschen erahnen. Tausende von Salzbecken bilden die höchstgelegene Salzfarm der Welt. Früher war es das “weiße Gold“ der Inkas, heute stellt es nur noch eine viel zu kleine Einnahmequelle für die hart arbeitenden Salzbauern Perus dar, darüber dürfen auch die romantischen Bilder nicht hinwegtäuschen. Auf der Rückfahrt ins Hotel denke ich mir, wie gut und bequem wir es doch in Deutschland haben, nur dass es die meisten hier nicht wissen!
10. Juli – 12. Juli 2019, Lima
Pünktlich landen wir in Lima um 13 Uhr und ich mache mich direkt auf dem Weg in das neue Hotel, welches ich in Downtown gebucht habe. Einen Teil meines Gepäcks befindet sich noch im anderen Hotel und es bereitet ein bisschen Schwierigkeiten, den Transport von dort zu organisieren. Aber getreu meinem Motto “You can get everything, if you really want it“ habe ich auch das nach ein paar Telefonaten in einer Stunde arrangiert. Die Frau aus Hamburg, die ich in einem Restaurant in Cusco beim Abendessen an der Bar neben mir kennengelernt habe und die sich als Restauranttesterin entpuppt hat, hat mir einige Namen von guten Restaurants und Bars in Lima gegeben. Davon muss ich noch ein paar ausprobieren. In der Tat, man erkennt ein gutes Restaurant schon daran, dass es voll ist und Leute draußen nach Tischen fragen, während andere Restaurants mit einem Akquisiteur jeden Touristen ansprechen. Wenn ich nicht allein wäre, hätte es ohne Tischreservierung hier bestimmt nicht geklappt. Nach dem Abendessen – natürlich wieder Cevice – will ich um halb zwölf noch in eine der Bars auf meiner Liste. Die ist vielleicht 500 m entfernt und mit Navi im Handy finde ich den Weg ganz gewiss. Ich bemerke schon, dass ich fast auf der ganzen Strecke alleine auf der Straße bin, aber entscheidend ist, dass man keine Angst zeigt, das weiss ich aus meiner Zeit in New York und ich komme auch wohlbehalten an. Die Frau aus Lima, die zwei Tage später im Flugzeug neben mir sitzt, wird mich für meinen Nachtspaziergang als „ein bisschen verrückt“ erklären, aber es hat doch gut geklappt! Ja ich gebe zu, ein bisschen liebe ich diesen Kitzel, eigentlich ist es für mich eine kleine Herausforderung, “das Spiel zu gewinnen“ und es hat ja bisher auch immer geklappt. Am nächsten Abend werde ich es wiederholen – und wieder gewinnen! “Change of the Guards“ am Regierungspalast am nächsten Morgen soll eine Sehenswürdigkeit sein. Aber da bin ich vom Buckingham Palace halt doch ein bisschen verwöhnt und finde das nicht so prickelnd. Interessant ist allenfalls das Spalier der Polizisten mit Schutzschildern, welche vielleicht ein bisschen auch die politische Macht gegenüber dem Volk nach außen demonstrieren sollen. Viel beeindruckender ist für mich das Gespräch mit dem Schuhputzer, der sich 15 Minuten mit meinen beiden Schuhen abgibt, über seine Familie und seine Kinder. Bei diesem Zeitaufwand hat er einen Stundenlohn von etwa 50 Cent, aber er will und will gar nicht aufhören und ich bekomme schon den leisen Verdacht, dass er vielleicht einen geheimen Deal mit dem naheliegenden Schuhgeschäft hat und sich meine Schuhe nach seiner intensiven Behandlung bald in Luft auflösen und ich ein neues Paar Schuhe kaufen muss. Aber es war tatsächlich nur der Stolz seines Handwerks und ich erinnere mich wieder an meinen gestrigen Gedanken über unseren Wohlstand in Deutschland. Natürlich gebe ich ihm ein großzügiges Trinkgeld, aber damit kann ich die Not ja auch nicht lösen. Hinter mir ist auch gleich die Kathedrale, die das Museum für religiöse Kunst beinhaltet. Interessant ist für mich die Erkenntnis, dass die altbekannten Heiligen in ihrer Physiognomie und insbesondere Gesichtszügen der lokalen Bevölkerung entsprechen. Eine heilige Maria mit indigenem Gesichtsausdruck und mittelbraunem Teint wird man in Europa nicht so schnell finden. Das Museo Larco – ich weiß nicht mehr, wer es mir empfohlen hat – ist ein absoluter Glückstreffer, ein totales Highlight. Gut, dass ich mich für die Führung entscheide, sonst könnte ich die allermeisten Exponate in ihrer Bedeutung nicht einmal annähernd erkennen oder würdigen. Beinahe hätte ich den Führer sogar für mich alleine gehabt, aber dann kam in letzter Minute doch noch eine Frau dazu und so sind wir zu zweit – eine sehr exklusive Führung. Auch hier nehme ich wieder das besondereEngagement und den Stolz des Museumsführers war, so wie bei Ricardo im Heiligen Tal. Da ist einmal das Quipu, eine Ansammlung von verschieden farbigen Schnüren mit Knoten an unterschiedlichen Stellen, die insgesamt an einer zentralen Schnur befestigt sind. Es ist ein Wirtschaftsbericht für eine bestimmte Region und eine bestimmte Zeitphase. Jede Schnur hat ein anderes Thema oder versinnbildlicht unterschiedliche Erzeugnisse – von Oliven über Getreide bis Kartoffeln – und die Knoten und ihre Abstände sind Mengenangaben. Wenn ich vor 500 Jahren gelebt hätte, dann hätte mein Wirtschaftsprüferbericht oder die Bilanz wohl so ähnlich ausgesehen. Und dann ist da neben vielen anderen einmaligen Exponaten noch diese in Stoff gehüllte und mit einer Maske versehene Büste eines offenbar sehr stattlichen Mannes mit Pelzmütze. Erst die moderne Technik mit Ultraschall und Radiofrequenzen vor wenigen Jahrzehnten hat ans Tageslicht gebracht, was er in sich verbirgt: die Mumie eines kleinen Babys, welches wohl schon wenige Tage nach der Geburt gestorben ist. Es muss wohl das Kind eines Herrschers gewesen sein. Eine Etage tiefer, im Museo Erotico geht es dann wirklich “zur Sache“. Tonfiguren in allen Größen, die unverblümt alles zeigen “was man schon immer gerne wissen wollte, aber nie zu fragen wagte“. Selbst eine Beate Uhse könnte hier wohl noch dazulernen. Aus den Darstellungen kann man aber auch ableiten, dass Sex und Erotik für die Inkas etwas ganz Natürliches gewesen sein muss, weil es halt zum Fortbestand des Lebens gehört. Genauso wie die Pflanzenversuchsanstalten in Moroy, wo ich noch ein paar Tage zuvor war. Trotz dieser sachlichen und logischen Erklärung entscheide ich mich aber, keines der Fotos, die ich hier gemacht habe, in mein Fotobuch aufzunehmen. Man weiß ja doch nicht, ob manche Menschen nur meine Bilder anschauen und dann zu falschen Schlussfolgerungen kommen. Heute bin ich früher dran, da besuche ich zuerst eine der Bars auf meiner Liste. Das Restaurant anschließend ist noch beeindruckender als gestern, einmal was die Speisen betrifft, aber auch das Ambiente – fast wie ein kleiner Palazzo. Diesmal esse ich ausnahmsweise kein Cevice, obwohl es mich wieder gereizt hat. Im Taxi fahre ich zurück ins Hotel. Der letzte Tag eines überaus vielfältigen und beeindruckenden Urlaubs mit vielen bewegenden Erlebnissen geht zu Ende. Ich wusste ja schon bei der Planung, dass es keine erholsame Gemütlichkeitsreise sein wird, das war es auch nicht. Aber ich würde es, vielleicht mit ein paar kleinen Verbesserungen bei der Planung der Flüge, wieder tun. Wer weiß, vielleicht wiederhole ich es auch tatsächlich in ein paar Jahren – es gibt dort noch viel zu sehen und zu erleben, was mich wieder beeindrucken wird!
Berthold Metzger
PS: Der beste Kommentar zu (m)einem Fotobuch stammt von einer Freundin, die schon vorab ein paar Bilder als SMS zu sehen bekam: „Visuelle Eindrücke als Foto sind Momentaufnahmen, die das Wahrgenommene und Gefühlte immer nur zeitversetzt wiederspiegeln und zusätzlich räumlich und zeitlich begrenzen. Wer den Moment selbst erlebt, bekommt jedoch mehr als ein optisches Abbild, da er durch seine wiederum eigene Betrachtungsweise über diese gesteckte Grenze hinausgehen kann.“