Die moderne Vinyl-Langspielplatte feiert am 21. Juni ihren 75. Geburtstag und erlebt eine Renaissance. Bereits vor 125 Jahren eröffnete Emil Berliner in Hannover die erste Schallplattenfabrik. Und mit „Ionic Original“ soll jetzt ein neues revolutionäres Musikformat auf den Markt kommen
Eine Schallplatte ist viel mehr als eine schwarze Scheibe. Nämlich: Tonträger, Kultobjekt, Sammlerstück, Wertanlage, Kulturgut, Kunstwerk und Zeitdokument.
Die Tragweite seiner Erfindung ist noch nicht zu erahnen, als Emil Berliner am 16. Mai 1888 einen ersten funktionsfähigen Schallplatten-Prototypen aus Zelluloid am Franklin Institut in Philadelphia vorstellt. Bereits ein Jahr später bringt er in Deutschland sprechende Puppen mit Miniaturgrammophon und Hartgummischeibe auf den Markt. Ab 1896 verwendet er als Plattenmaterial eine strapazierfähigere Pressmasse aus dem Naturkunststoff Schellack. Dieser spezielle Lack besteht aus den Ausscheidungen einer Blattlausart aus Indien. Dieser Kot wird mit Schieferpulver, Baumwollflock und Ruß zu einem Kloß vermischt. In einer Presse wird jede Schellackplatte einzeln gepresst. Diese kann bis zu 80 Rillen fassen. Nach Eröffnung von Schallplattenproduktionsstätten in England und Amerika gründet Emil Berliner gemeinsam mit seinen Brüdern Joseph und Jacob am 6. Dezember 1898 in Hannover die Deutsche Grammophon Gesellschaft (DGG). In der Nordstadt entsteht die erste Schallplattenfabrik. Im Geschäftsjahr 1898 verkauft er an wohlhabende Grammophonbesitzer bereits über 700.000 Schellacks mit der Drehzahl von 78. Heute ist die DGG das älteste Tonträgerunternehmen der Welt. Aus ihr geht 1972 die PolyGram hervor, die 1998 wiederum in der Universal Music Group aufgeht. Sie hat den weltweit größten Anteil am Musikmarkt.
Emil Berliners Erfindungen Grammophon und Schallplatte sind technische Sensationen, zunächst werden sie aber als Luxusspielzeuge abgetan. Erst als im Mai 1904 der italienische Opernsänger Enrico Caruso bei Berliners Firma Victor Talking Machine Company eine technisch ausgereifte Schallplatte mit dem Label-Aufdruck “His Master’s Voice” herausbringt, erweist sich die überragende Bedeutung des neuen Mediums für die Musikkultur. Von Carusos “Vesti La Giubba” aus der Oper “Pagliacci” werden innerhalb von zwei Jahren eine Million Exemplare verkauft. Es ist der erste Millionenseller in der Geschichte der Musikindustrie. In den kommenden zehn Jahren gründen sich allein in Deutschland 500 Plattenfirmen.
1926 bringt Thomas Alva Edison als eine seiner letzten Erfindungen einen Schellack-Vorläufer der heutigen Vinyl-LP auf den Markt. Seine Long Playing Diamond Disc spielt bei einer sehr hohen Tonqualität je nach Durchmesser bis zu 40 Minuten bei 80 Umdrehungen. Nachteil: Sie funktioniert nur mit einer Diamantnadel, und 1926 existieren lediglich sechs Langspielplatten. Im September 1931 gelingt RCA Victor mit der „Program Transcription Disc“ eine weitere technische Revolution: Langspielplatten aus Vinyl mit 15 Minuten Laufzeit pro Seite, einem Durchmesser von 30 Zentimern und 78 Umdrehungen in der Minute. Vorerst werden nur Kinderplatten in diesem Format gepresst. Aber bereits am 14. Dezember 1931 erfindet der britische Elektroingenieur Alan Dower Blumlein das bis heute benutzte Verfahren für die Aufnahme und Wiedergabe von zwei Kanälen in einer Rille. Weil die Vinylscheiben im Gegensatz zum empfindlichen Schellack nahezu unzerbrechlich sind, bringen die US-amerikanischen Streitkräfte im Zuge des Zweiten Weltkriegs so genannte “Victory Discs” heraus. Diese “Scheiben für den Sieg” enthalten patriotische Lieder und Wortbeiträge von Unterhaltungsstars wie Frank Sinatra, Glenn Miller oder Gene Krupa. Sie werden den im Ausland kämpfenden GIs als Tornister-Ausgaben zur moralischen Stärkung in die Schützengräben geschickt. In Nazi-Deutschland hingegen bricht die Schallplattenproduktion weitgehend zusammen.
Am 21. Juni 1948 präsentiert Columbia Records auf einer Pressekonferenz schließlich die erste rauschreduzierte Langspielplatte (LP) aus Polyvinylchlorid (PVC) mit einer Drehzahl von 33 Umdrehungen pro Minute. Ohne Klangverlust ist jetzt eine Spielzeit von bis zu 23 Minuten pro Seite möglich. Die moderne Langspielplatte ist geboren und kommt in buchartiger Verpackung daher. Das so genannte “Album” verdrängt die Schellack-Pressungen u.a. von den Beatles vom Markt.
Entwickelt wurde die “Long Playing Microgroove” (lang spielende Rille) binnen drei Jahren von dem ungarisch-amerikanischen Ingenieur Peter Carl Goldmark. Zum Abspielen in Chrysler-Automobilen denkt er sich sogar eine kleinere Variante aus: die Highway-Hi-Fi-Schallplatte mit 16 Umdrehungen pro Minute. Für seine bahnbrechenden Erfindungen wird Goldmark in die Investors Hall Of Fame aufgenommen. Viele vorangegangenen Veröffentlichungen werden auf Vinyl wiederveröffentlicht, und die von RCA 1948 eingeführte 7”-Single leitet das Zeitalter des Rock’n’Roll ein. Ab Mitte der 1950er Jahre setzen sich erschwingliche Plattenspieler durch mit allen drei bis dahin üblichen Geschwindigkeiten (33 ⅓, 45 und 78 min−1).
Es gibt inzwischen einen weiteren Versuch, mit einem neuen Tonträgerformat die Musikwelt zu revolutionieren. Der Plattenproduzent und Musiker Joseph Henry „T Bone“ Burnett (75) aus St. Louis/USA hat das physische Musikformat „Ionic Original“ entwickelt. Es verspricht höchsten Hörgenuss und soll die digitale Wiedergabe weit hinter sich lassen. Die Platte kombiniert einige der Materialien, die sowohl bei Vinyl als auch bei CDs verwendet werden, um analoge Tonträger herzustellen. Im Gegensatz zu herkömmlichen LPs, die aus PVC bestehen, und CDs, die Plastik mit einer Metallschicht enthalten, bestehen Ionic Originals aus „Lack, der auf eine Aluminiumscheibe gestrichen ist, in die eine Spirale durch Musik eingeätzt ist“, erklärt Burnett etwas nebulös. Die Lackierung hätte die „Eigenschaft, Musik zu enthalten, die man hören kann, wenn man einen Stift in die Spirale steckt und sie dreht.“ Erstmals ist diese Technologie für ein Projekt mit Bob Dylan eingesetzt worden, bei dem Burnett einige der klassischen Songs des Sängers neu aufgenommen hat. Ein handgefertigtes Einzelstück mit dem Klassiker “Blowing in the Wind” wurde bereits bei Christie’s in London für 1,5 Millionen Pfund versteigert. “Es ist das Äquivalent zu einem Ölgemälde”, trommelt Burnett.
Bis heute bestimmt die Schallplatte das Lebensgefühl von Milliarden von Menschen. Daran ändert auch die digitale Verbreitung von Musik nichts. Im weltgrößten Musikmarkt USA fanden im vergangenen Jahr erstmals seit 1987 wieder mehr Schallplatten (41,3 Millionen) als Compact Discs (33,4 Millionen) Käufer. Damit hat Vinyl die Nische im Hifi-Geschäft wieder verlassen. In Deutschland hingegen stehen 19,4 Millionen verkaufte CDs nur 4,3 Millionen LPs gegenüber.
Das Raspeln, Knistern und Rumpeln, das bei der mechanischen Abtastung einer Platte entsteht, hat trotz cleaner digitaler Soundfiles offensichtlich nichts von seiner Faszination verloren.
Olaf Neumann