Können wir dauerhaft auf Abstand zusammenleben?
Das DOCKS hat in der vergangenen Woche eine Wandzeitung veröffentlicht, die zum Nachdenken anregt und Statements aus Wissenschaft, Kultur und Politik präsentiert, die in der Öffentlichkeit viel zu schwach vertreten sind. Ein enormer Shitstorm auf Facebook ist die Folge.
Wer unsere Kollegen vom DOCKS jedoch kennt, weiß, dass sie genauso tolerant, genauso bunt und offen sind, wie wir von der Grossen Freiheit 36 – und in keiner Weise irgendwelche rechten und Aluhut tragenden Verschwörungstheoretiker!
Offensichtlich ist es aktuell in der Öffentlichkeit nicht möglich eine konstruktive Debatte über richtig und falsch zu führen. Das Clubkombinat Hamburg u.a. folgt dem diskriminierenden Internet-Mob und fordert den sofortigen Rücktritt der ersten Vorstandsvorsitzenden Susanne Leonhard, Geschäftsführerin des DOCKS. Die Weise, wie Menschen öffentlich urteilen, machen mir Sorgen. Unsere sonst geltenden gesellschaftlichen Werte suche ich vergebens:
Respekt, Toleranz, Kompromissbereitschaft!
Das kann ich aus demokratischen Gründen nicht auf mir sitzen lassen und hänge ebenfalls eine Wandzeitung im Eingangsbereich aus.
Worum geht es uns überhaupt?
Mitte März 2020 drohte ein unkontrolliertes Infektionsgeschehen unser Gesundheitssystem und einzelne Bundesländer zu überlasten. Ein schnelles Handeln seitens der Bundesregierung mit Aufruf der epidemischen Lage von nationaler Tragweite war die Folge. Die resultierenden Maßnahmen trugen dazu bei, die Ausbreitung schnell zu begrenzen. Nach kurzer Zeit waren die Kriterien für eine epidemische Lage in Deutschland schon nicht mehr erfüllt und Ende Juni 2020 können wir auf immer präziser werdende, wissenschaftliche Auswertung blicken. Es zeigt sich, dass weite Teile Deutschlands nahezu infektionsfrei und regionale Infektionsgeschehen durchaus kontrollierbar sind. Die epidemische Lage von nationaler Tragweite wird jedoch nicht revidiert. Das kann ich nur schwer verstehen. Der Deutsche Bundestag ist sich darüber übrigens auch bei Weitem nicht einig.
Nach mittlerweile 100 Tagen herrscht in unseren Hallen Totenstille, denn für uns sind die geltenden Abstandsgesetze gleichzusetzen mit einem Berufsverbot. Denn zum einen können wir, strengen Regularien folgend, dem Gast nicht bieten was er erwartet, zum anderen ist die Wirtschaftlichkeit nicht im Ansatz gegeben.
Was sind die Aussichten?
Die staatlichen Förderungen reichen nicht aus, um den Betrieb und seine Mitarbeiter auf Dauer künstlich zu erhalten. Der Bundespolitik folgend, steht aktuell u.a. ein Gesetzesentwurf zur Debatte, die eine Öffnung nach gewohnten Bedingungen bis in den März 2021 hinauszögern würden. Jeder Tag der vergeht, verschlimmert den nicht widerrufbaren Schaden für unser psychosoziales, kulturelles und gesellschaftliches Leben! Ein überparteilicher Expertenrat, der alle gesellschaftlichen Aspekte berücksichtigt, um uns bestmöglich aus der Krise zu lenken, existiert bis heute nicht!
Eine Kulturstätte ist weit mehr als ein schönes Wort: Sie ist Ort für einzigartige Erlebnisse und Emotionen. Sie ist Nährboden für Kreativität und Vielfalt. Sie ist Raum für soziale Begegnung, Gemeinschaft und damit wichtig für unsere Identität. Sie ist Freiheit!
Die große Sorge: Wie geht es weiter?
Es fehlt eine klare Perspektive für die Zukunft! Wann und vor allem wie soll es denn sinnvoll weitergehen für Kulturschaffende? Und wie überbrücken wir sinnvoll die Zeit bis dahin?
Wenn kein Weg gefunden wird, gehen nach und nach die Lichter für immer aus, ganze Stadtteile rutschen ab, Immobilien werden umfunktioniert. Was passiert mit St. Pauli und seinen Gästen?
Und Ihr? Was bedeutet ein Leben ohne Kultur für euch?
#mitabstandgehtesnicht #kultursterben
Mitja Boettger-Soller
(Geschäftsführer GROSSE FREIHEIT 36) Können wir dauerhaft auf Abstand zusammenleben?