Wie kaum eine andere Band feuern Anti-Flag radikal gegen Rechtsextremismus, soziale Unterdrückung und jegliche Form von Gewalt. Knallhart und unverblümt legen die US-Amerikaner seit rund 30 Jahren immer wieder den Finger in die Wunde jüngster Skandale. So auch bei der Trump-Regierung, die zum aktuellen Werk „20/20 Vision“ inspirierte. Nach der Jahrtausendwende startete das Quartett um Sänger Justin Sane (47) einen internationalen Höhenflug. Das Kredo: Punk als Waffe gegen Krieg und für den Frieden!
Justin Sane, bürgerlich Justin Geever, wurde 1973 in Pittsburgh/Pennsylvania als Sohn irischer Einwanderer geboren. Seine idealistischen Eltern trugen ihre Werte früh an Justin heran. So ernährte sich die Familie vegetarisch und ging gemeinsam zu Kundgebungen und Demos. Die erste Gitarre bekam Geever von seiner Schwester Lucy geschenkt, woraufhin er einen Song verfasste, der vom Drogenmissbrauch eines jungen Menschen erzählt.
Bei einer Reise nach Kalifornien mit seinem Kumpel Patrick Bollinger tauchten die Jugendlichen in die dortige Punk-Szene ein und schöpften Inspiration für eigenes musikalisches Schaffen. Unter den Künstlernamen Justin Sane („Just Insane“ = „einfach wahnsinnig“) und Pat Thetic („Pathetic“ = „armseelig“) gründete sich 1988 die Band Anti-Flag mit Justin als Sänger und Gitarrist und Pat am Schlagzeug. Die Posten des Zweit-Gitarristen und des Bassisten wurden etliche Male neu besetzt, sodass das Line-Up beim besten Willen keinen Bestand fand. Das Projekt zerbrach nach nur einem Jahr.
1992 starteten Justin und Patrick mit dem Bassisten Andy Flag einen zweiten Anlauf. Das Dreier-Gespann veröffentlichte 1996 ihr Debüt „Die for the Government“. Kurz darauf kam es zu einem Zerwürfnis zwischen Andy und Justin, welches zum Band-Ausstieg Andys führte. Damit stand das Projekt abermals vor der Line-Up-Problematik und die Suche begann von Neuem. Zum Glück machten sie bald Bekanntschaft mit Chris Head, der ursprünglich Gitarrist war, aber aus der Notlage der Band zunächst die Rolle des Bassisten übernahm. Als der Anti-Flag-Fan Chris Barker als Bassist eingesetzt wurde, konnte Chris Head an die Rhythmus-Gitarre wechseln. Genau wie Justin wuchs auch der neue Chris in einer Familie aus der Pittsburgher Mittelschicht auf, ernährt sich vegan und beschäftigt sich intensiv mit Politik. Um einer Namensverwirrung vorzubeugen, wurde der Neuzugang Chris Barker kurz Chris #2 benannt.
Sobald das Line-Up 1999 stand, kam mit „A New Kind of Army“ ein Album raus, auf dem ein Tabu-Bruch den nächsten jagt. Thematisiert werden soziale und politische Inhalte aus der Mitte der Gesellschaft, wie Abtreibung (“No Apology“), Rassismus („No Differences“) und Polizeigewalt („Tearing Everyone Down“).
Zudem klärte das Quartett im selben Zuge die Bedeutung hinter ihrem Band-Namen auf, der oft zu Fehl-Interpretationen geführt hatte. So steht auf dem Cover:
„Anti-Flag does not mean Anti-American. Anti-Flag means anti-war. Anti-Flag means unity.“
[„Anti-Flag bedeutet nicht ‚Anti-Amerika‘. Anti-Flag bedeutet ‚Anti-Krieg‘. Anti-Flag bedeutet ‚Einheit‘“].
Vier Punks, die gemeinsam die US-Flagge aufrichten, verbildlichen dieses Prinzip. Es ist bis heute die einzige Platte, auf der die Vocals ausschließlich von Justin Sane gesungen werden. In allen späteren Werken wird der Musiker passagenweise von Chris und Chris #2 unterstützt.
Jenes Album, das der Punk-Band einen Platz in der Mainstream-Musik verschaffte, trägt ironischerweise den Titel „Underground Network“ und erschien 2001. Auf diesem nehmen die Punks das erste Mal auf den ikonischen Protest-Folkmusiker Woody Guthrie Bezug, indem sie einen Song nach der Phrase betiteln, welche dessen Gitarre zierte und da lautet:
„This Machine Kills Fascists“
[„Diese Maschine tötet Faschisten“]
Der aggressive Sound aus wilden Gitarren und wütenden Texten, begleitet von anti-faschistischen Texten, gilt als seither als Anti-Flag-Markenzeichen. Das dazu passende Logo folgte 2002 mit der EP „Mobilize“, auf dessen Cover ein Stern bestehend aus zerbrochenen Gewähren zu sehen ist, den Chris Head selbst entworfen hatte, um das pazifistische Standing zu symbolisieren.
Wer seine politische Gesinnung so öffentlich propagiert, der trifft unweigerlich auf Gegenwind. So erfuhr es die Band mit der 2003er Platte „The Terror State“, die mit Blick auf die Bush-Regierung entstanden war. Dabei beginnt die Provokation bereits beim Cover, welches ein kleines, als Soldatin gekleidetes Mädchen (dargestellt von Justins Nichte Rachel) inmitten eines Trümmerhaufens zeigt. Die Lieder rechnen mit der US-Politik und im Speziellen mit den amerikanischen Kriegsoffensiven so dermaßen ab, dass einige Plattenläden „The Terror State“ aus ihrem Inventar verbannten. Unter dem Druck der Öffentlichkeit ließen die Punk-Rocker eine alternative Version des Covers anfertigen, auf dem nur Band- und Album-Name stehen. Die Lyrics des Tracks “Post-War Breakout“ stammen erneut von Woody Guthrie und wurde von Anti-Flag neu arrangiert.
Weitere Kritik hagelte es, als die Anti-Kapitalisten 2005 einen Vertrag für zwei Alben beim Major Label RCA Records unterschrieben. Viele Underground-Fans empfanden diesen Schritt als Verrat am Punk uns warfen der Band vor, ihre Ideale für Geld zu verkaufen. Justin Sane erklärt in diesem Punkt, das Label ließe ihnen alle künstlerischen Freiheiten und gebe ihnen lediglich die Chance, sich einem größeren Publikum zu öffnen, was vorher nicht stattgefunden hatte. „Ich habe das Gefühl, wir waren zu lange eine Stimme in der Wildnis“, begründet er die Entscheidung in der britischen Zeitung The Guardian.
Nachdem 2006 mit „For Blood and Empire“ der Hit „This Is The End (For You My Friend)“ auf den Markt gekommen war, folgte eine ausführliche US-Tour. Anschließend sollte die Truppe Billie Talent auf der Kanada-Tour begleiten, jedoch war die Freude daran nur von kurzer Dauer: Chris #2 erhielt währenddessen die schockierende Nachricht, dass seine Schwester und deren Freund ermordet wurden. Die geplanten Gigs wurden abgesagt.
Mit der Intention anderen Gewalt-Opfern und deren Angehörigen zur Seite zu stehen, entstand noch im selben Jahr die EP „A Benefit for Victims of Violent Crime“, deren Erlös komplett an das „Center for Victims of Violence and Crime“ in Pittsburgh gespendet wurde.
Auch auf der Tour mit dem 2008 veröffentlichten „The Bright Lights of America“ schien Anti-Flag wie vom Pech verfolgt. Die Europa-Konzerte mussten kurzfristig aufgrund eines Schulterbruchs abgesagt werden, den sich Justin Sane während eines Auftritts in England zugezogen hatte. Ein Besucher soll den Sänger mit Knicklichtern beworfen haben, woraufhin dieser von der Bühne springen wollte, um den Konflikt direkt zu klären. Zu allem Überfluss missglückte der Sprung. Eine weitere Ursache für das Absagen der Tour war ein Todesfall in der Familie des Gitarristen Chris Head und auch Drummer Pat Thetic war durch einen dreifachen Rippenbruch alles andere als in Bestform.
Zum 20-jährigen Band-Jubiläum schenkten Anti-Flag ihren Fans 2014 das Best-of-Album „A Document of Dissent: 1993-2013“. Das Booklet liefert Einblicke in bis dahin unveröffentlichte Notizen der Band zur Entstehung von Songs, der Inspiration dahinter und ihrer Bedeutung.
2015 markierte den Auftakt der „American-Reihe“, zu der „American Spring“ (2015), „American Fall“ (2017) und „American Reckoning“ (2018) zählen. In Letzterem präsentieren uns die Jungs erstmals akustische Versionen aus den beiden Vorgängern und coverten John Lennon („Gimme Some Truth“), Buffalo Springfield („For What It‘s Worth“) und Cheap Trick („Surrender“).
Im Januar diesen Jahres legten die Musiker mit „20/20 Vision“ nach. In der Hauptrolle: die Skandale der Trump-Regierung. Dabei spielt „20/20“ einerseits auf das Jahr 2020 an und bezeichnet zugleich im Medizin-Jargon die optimale menschliche Sehstärke. Soll heißen: Anti-Flag nehmen die politische Entwicklungen genau unter die Lupe und heben Missstände musikalisch in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. 2004 hieß der Demokrat Jim McDermott die Arbeit Anti-Flags sogar gut, da sie politische Themen an die Jugend heranbrachte.
Dass ihre Statements mehr als leere Parolen verkörpern, haben Anti-Flag in all den Jahren mehr als deutlich bewiesen. Denn neben ihrem musikalischen Engagement widmeten sie sich außerdem Projekten wie dem „African Well Fund“, der Menschen in Afrika mit sauberem Trinkwasser versorgt und während des österreichischen Studentenaufstands hielten Anti-Flag eine Rede in der Wiener Uni über das Recht auf Bildung. 2010 ließen sie ihre US-Tour von Amnesty International, Peta Zwei, Greenpeace und Innes Clothing (Kleidung für Obdachlose) sponsern. Durch solche Aktionen treibt die Gruppe Menschen dazu an, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und gemeinsam etwas zu bewirken. Und das ist es wohl, was Anti-Flag ausmacht: den Mund auf zu machen, Grauzonen einzufärben und allem voran, die Menschen zu vereinen.
Alben:
Die for the Government (1996)
A New Kind of Army (1999)
Underground Network (2001)
The Terror State (2003)
For Blood and Empire (2006)
The Bright Lights of America (2008)
The People or the Gun (2009)
The General Strike (2012)
American Spring (2015)
American Fall (2017)
20/20 Vision (2020)