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History: Lee „Scratch“ Perry

Der Schamane des Dub

Godfather of Reggae, Salvador Dalí der Musik … Seine Namen waren so vielseitig wie die Kreativität des jamaikanischen Musikproduzenten. Sein Heimatland verehrt ihn für Kollaborationen mit Bob Marley oder Paul McCartney; sein Ruf glich dem eines Gottes. Perrys eigene Platten sind eine einzigartige Séance voller Soundeffekte und Melodie. Im August verstarb der Ausnahmekünstler im Alter von 85 Jahren, seine Musik lebt weiter. OXMOX blickt auf den einzigartigen Werdegang des Reggae-Pioniers zurück …

 

Ob Reggae, Ska, Dub oder HipHop; jeder Titel dieser Genres trägt ein kleines bisschen Lee „Scratch“ Perry in sich. Durch seine Geburt am 20.03.1936 als Rainford Hugh Perry in Ken- dal, Jamaika machte er seine Heimat zur Wiege der Musikrichtung mit den Rasta-Locken und bunten Mützen. Großgezogen wurde er von seiner Mutter, die der Yoruba-Tradition, einer westafrikanischen religiösen Kultur, folgte und seinem Vater, der als Straßenarbeiter sein Geld verdiente. Mit 15 brach der junge Rainford die Schule ab und ging zunächst nach Clarendon, wo er sich in der lokalen Musik- und Tanzszene den Namen „The Neat Little Thing“ verdiente. Kurz darauf zog er nachKingston und arbeitete dort im berühmt-berüchtigten Studio One. Die Musikproduktionsstätte gehörte Coxsonne Dodd († 2004), ein bekannter Produzent und angeblich Besitzer der größten Plattensammlung Jamaikas. Vinyl war in den 60ern nicht beson- ders verbreitet auf der Insel und wurde nur manchmal als Rarität von Arbeitern mitgebracht, die zwischen den USA und Jamaika pendelten.

Zunächst nahm man Perry nicht für voll, weil sein futuristischer Stil für einen Witz gehalten wurde. Durch sein großes Talent schaffte er es dann doch vom Praktikanten zum Bandleader und begann, sowohl lokale Musiker als auch seine eigenen Songs zu produzieren, obwohl er bis zum Alter von 26 noch nie ein Tonstudio von innen gesehen hatte. Einer seiner ersten Tracks war „Chicken Scratch“, der ihm seinen Spitznamen verlieh. Das eigene Statement des Künstlers dazu war: „Everyone has to start from scratch.“ (dt. Jeder fängt mal klein an.)

Dazu beigetragen hat außerdem seine Vorliebe für das Sampeln. Der gerade mal 1,68 m große Lee begann schon damals, mit Roots Reggae oder Ska zu experimentieren und erfand gegen 1963 mit seinem Freund Kind Tubby († 1989) kurzerhand den Dub.
Dub ist sozusagen der technische Teil des Reggae und ein bedeutender Vorreiter der heutigen Techno-Musik.

1968 gründete Lee sein eigenes Label Upsetter Records. „The Upsetter“ war nicht nur der Name eines Songs und seiner Plattenfirma, sondern eine regelrechte Lebensphilosophie. „Ein Verrückter zu sein ist etwas Gutes! Es hält die Leute fern. Wenn sie denken, du seist verrückt, dann kommen sie nicht mehr an und nehmen deine Energie, machen dich schwach. Ich bin der Upsetter (dt. Aufreger)!“

Mit den Upsetter Records formte er gleichzeitig die Band The Upsetters, mit denen er viele Jahre zusammenarbeitete. Die Gruppe nahm unter anderem die Songs „Place In The Sun“ und „People Funny Boy“ auf. Letzterer gilt als erster richtiger Reggae-Song und faszinierte durch ungewöhnliche Soundeffekte, wie das Schreien eines Babys. Die Singles feierten große Erfolge und gehörten zu den ersten Reggae-Songs, die auch das Ausland begeisterten. Der Mischpultmeister wurde zur beliebten Anlaufstelle für lokale Musiker, die sich von ihm produzieren lassen wollten. Einer davon war Reggae-Legende Bob Marley († 1981). Dieser war gerade aus den USA zurückgekommen, da sein geplanter musikalischer Durchbruch in den Staaten gescheitert war. Lee erkannte das Potenzial des Rastafari-Anhängers und machte den Sänger und seine Band The Wailers zu Superstars. „Ich fand seine (Marleys) Stimme gi- gantisch und habe gleich erkannt, dass hier was zu machen war. Aber Leute mit solchem Talent kannst du nicht unter Kontrolle halten.“ Bis heute sind Bob Marley & The Wailers die erfolg- reichste Reggae-Formation aller Zeiten. Perry war außerdem der Entdecker des Bassisten Aston „Family Man“ Barrett (75), den er mit der Band zusammenbrachte.

Gemeinsam veröffentlichten sie die Songs „My Cup“, „Duppy Conquer- or“, „Small Axe“, das Album „Soul Revolution“ u. v. m. 1974 brachte Perry, der der Inhaber des Copyrights war, zwei Compilation-Alben unter dem britischen Label Trojan Records heraus. Diese Aktion verursachte einen riesigen Streit zwischen den Wailers und ihrem Produzenten, woraufhin sie sich trennten. Bob Marley war der Einzige, der weiterhin mit Perry zusammenarbeitete, da er in diesem eine Inspirationsquelle fand. Generell wurde der Jamaikaner für sein Talent, Musikern die Tiefen ihrer Kreativität zu entlocken, geschätzt. Rolling Stones Gitarrist Keith Richards (77) sagte einmal über ihn: „Man konnte Lee Perry nie ganz verstehen – er ist der Salvador Dalí der Musik.“ Auch Musiker wie Beatles-Sänger Paul McCartney (79), Reggae-Musiker Gregory Isaacs († 2021) oder der britische Popstar Robert Palmer († 2010) wollten ein bisschen „Scratch“ in ihren Songs und ließen sich von ihm produzieren.

1973 errichtete Perry sein eigenes Tonstudio namens Black Arc (dt. Schwarze Arche) hinter seinem Haus in Kingston. Damals lebte er dort mit seiner Frau Pauline „Isha“ Morrison und ihren drei gemeinsamen Kindern. Black Arc, das bis dahin teuerste Musikstudio der Stadt, wurde das neue Zentrum von Kingstons Musikszene und war die Produktionsstätte der Reggae-Sänger U-Roy, I-Roy, dem Rastafari-Trio Mighty Diamonds oder Reggae-Künstler Max Romeo (74). Dessen Song „Chase The Devil“ soll Lee angeblich in nur 20 Minuten fertiggestellt haben. Der Musikproduzent hatte für alles und jeden ein passendes Tape mit seinen extraordinären Sounds im Hintertürchen. Romeo sagte über ihn: „Er ist ein wahres Genie. Natürlich war er seiner Zeit voraus.“

Perry nutzte seine Musik als Friedensmacher, denn Jamaika hatte zu der Zeit mit großen politischen und sozialen Problemen zu kämpfen. „Es war keine Musik, die geschrieben wurde, es waren Gefühle.“
Black Arc war zweifellos die Spitze von Perrys Karriere, obwohl er niemals „professionell“ arbeitete. Seine Instrumente waren alles, was ihn umgab. Daraus formte er einzigartige Rhythmen, die seine Bands zu Musik für die Menschen machten. Es war zur einen Hälfte Technik, zur anderen Hälfte Magie und er war der Alchemist am Mischpult.

In dem Album „Heart Of The Congos“, das er 1977 für The Congos produzierte, kann man bei genauem Hinhören Geisterstimmen erkennen, die durch das ständige Überspielen des Bandes hinzugefügt wurden. Lee selbst wurde in der Zeit von Island Records präsentiert und brachte unter anderem „Colombia Colly“ oder „War Ina Babylon“ mit Max Romeo und den Upsetters raus. 1976 produzierte er außerdem deren Album „Super Ape“, eines der bekanntesten Werke der Band.

Die Ära Black Arc fand 1979 ein plötzliches Ende. Nachdem Perrys Frau ihn für einen Rastafari-Studiomusiker verließ, erlitt das Genie einen mentalen Zusammenbruch. Der große Stress, Jamaikas politische Situation, Probleme mit lokalen Gangs, die zu der Zeit immer korrupter und mächtiger wurden, und ein starker Alkohol- sowie Marihuanakonsum überrollten Lee. Den Erzählungen nach soll er mit einem madigen Stück Schweinefleisch durch die Straßen gelaufen sein und manisch Grafitti gesprayt haben. Eines Nachts brannte der Musiker sein Tonstudio nieder, da er einen dort hausenden bösen Geist vertreiben wollte. Für das Feuer saß er drei Tage in Untersuchungshaft, wurde bald aber frei gelassen, weil ihm nichts nachgewiesen werden konnte.

Nach dem Vorfall verließ Perry seine Heimat Jamaika und ging nach London. Dort war er den Punks bereits bekannt, da The Clash seinen sozialkritischen Song „Police & Thieves“, auch be- kannt als „Police On My Back“, 1976 gecovert hatten. Er erschien auf dem Erfolgsalbum „The Clash“ und wurde besonders in der Londoner Punkszene beliebt, da die Stadt selbst mit Polizei- gewalt und Kriminalität zu kämpfen hatte. Das Lied, welches er eigentlich für den Reggae-Sänger Junior Murvin († 2013) produzierte, wurde durch die Band The Equals ein Riesenhit.

Der exzentrische Freigeist zog nach einiger Zeit weiter und startete 1983 eine Zusammenarbeit mit den Produzenten Mad Professor (66) und Adrian Sherwood (63). Sein 1988 veröffent- lichtes Album „Satan Kicked The Bucket“ produzierte er in der Weltmetropole New York.
Auch privat veränderte sich Perrys Leben. 1989 begegnete er der Schweizerin Mireille Rüegg, die ihn in seinem Studio aufsuchte. Angeblich sagte er zu ihr „Ich habe auf dich gewartet“ und zeigte ihr ein Poster auf dem stand: „Du wirst von einem Schützen gerettet werden.“ Mireille bezeichnete den Jamaikaner als ihren Seelenverwandten und dieser war im späteren Alter der Überzeugung, dass er ohne sie schon längst tot wäre. Im selben Jahr noch heirateten die beiden in einer Krishna-Zeremonie. Lee Perry blieb mit seiner Frau und den beiden gemeinsamen Kindern Shiva und Gabriel in der Schweiz und nahm seine musikalischen Visionen gleich mit. In seinem selbst eingerichteten Tonstudio, das nun White Ark hieß, produzierte er fleißig weiter, entweder an eigenen Platten oder an Songs von anderen Musikern. In seinem Wohnort Einsiedeln galt er als Paradiesvogel und das nicht nur wegen seiner außergewöhnlichen Musik.

Vor allem sein bunter Stil mit verspiegelten Caps, rot gefärbtem Bart, Nagellack und Schmuck ließ Perry herausstechen. Er soll sogar ein Porträt der englischen Königin unter den Einlagen seiner Motorradstiefel getragen haben. Sein Erscheinungsbild war genauso kosmisch, wie er selbst. Manchmal bezeichnete sich Lee als Alien, der im Weltraum lebe und nur zu Besuch auf der Erde wäre. Passend dazu erhielt er 2003 einen Grammy für das beste Reggae-Album „Jamaican E.T.“. Weitere Nominierungen folgten 2007, 2008, 2010 und 2014.

Bis kurz vor seinem Tod kehrte er nur manchmal nach Jamaika zurück, da dort immer jemand etwas von ihm wollen würde. Anfang 2021 postete er auf Instagram, dass die Energie in der Schweiz schlecht wäre und die Temperaturen zu kalt. Generell fehlte ihm in seiner Wahlheimat die Rivalität. Nur durch diese würde man wachsen, sagte er einmal. Manchmal war sein Drang nach einer Auseinandersetzung so groß, dass er die lokale Kirche mit einem Schneeball auf dem Kopf besuchte, um den Priester zu ärgern.

Lee „Scratch“ Perry blieb bis zu seinem Lebensende musikalisch aktiv und brachte fast jedes Jahr ein neues Album heraus. In der Szene wurde er von Künstlern aller Genres für sein großes Genie verehrt. Selbst die Beastie Boys und die Red Hot Chili Peppers wurden von ihm inspiriert. Wenn man genau hinhört, kann man bei den beiden Bands die jeweiligen Rap- oder Reggae-Elemente in Verbindung mit Rock erkennen. Beide sind jeweils für ihren unverwechselbaren Sound bekannt, genau wie Perry.

Der Schamane der Klänge schuf psychedelische und plastische Räume, ohne jemals Noten lesen oder schreiben gelernt zu haben. Manchen galt er unter dem kreolischen Pantheon des Voodoo, einer in Jamaika verbreiteten Glaubensrichtung, auch als Gott. Seine Arbeit am Mischpult war überirdisch und genau für diese Einzigartigkeit wurde er verehrt. Lee wollte „das Böse mit Musik bezwingen“ und beschwörte dabei den Reggae herauf. Nun starb er am 29.08.2021 auf Jamaika und für die, die daran glauben, weilt er immer noch unter uns. Die, die es nicht tun, brauchen nur das Radio einzuschalten und schon sind sie von Lee „Scratch“ Perry umgeben.

Text & Fotos: Julia Fischer & Klaus M. Schulz

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