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Die Wut-Welle aus dem Herzen – Occupy

Die Wut-Welle aus dem Herzen – Occupy

Text & Fotos: Noah Schwarz

Auf   dem   Gerhart-Hauptmann-Platz in der Hamburger City ist es bitterkalt, es hat angefangen zu  regnen.

Keine  fünf Minuten  will  man  hier stehen bleiben.

Übernachten auf dem Pflasterstein?

Das ist alles andere als Komfortzone.

Doch einige Hamburger machen es.

In Zelten kampieren sie vor dem Eingang der HSH Nordbank.

Bis zum 10.November wollen sie bleiben.

Und es kommen immer  mehr  dazu.  Sie  sind  Teil  von  OCCUPY (z.dt. etwas in Anspruch nehmen / besetzen), einer weltweiten Protestbewegung, die am 17. September in  New  York begann  und  seitdem  für  größtes Aufsehen sorgt.

Denn dieses Mal ist es nicht eine kleine  Gruppierung,  die  aufbegehrt.

Dieses  Mal beteiligen sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen, jeden Alters und weit weg von politischer Zugehörigkeit.

 

Sie sehen sich als die 99 Prozent der Bevölkerung. die sich gegen  die   Maßlosigkeit,  Gier  und   Korruption  des  restlichen Prozent zur Wehr setzt.

OCCUPY – eine weltweite Bewegung.

lm wahrsten Sinne aus der Not geboren. Sie sind nicht laut.

Sie sind nicht aggressiv. Sie sind einfach da.

Auf einem Plakat haben sie drei Worte geschrieben: „Liebe statt Gier“

Passanten bleiben stehen, sprechen die Protestler an ihren Zelten vor der HSH Nordbank an.

„Ich finde es hervorragend, was Sie hier tun“, sagt eine ältere Dame.

Sie kommt gerade aus dem nahe gelegenen Thalia-Theater.

Demonstriert, so wie die Gruppe hier, habe sie noch nie: „Ich kann an dem hier nichtsfalschfinden“, sagt sie dann noch, „so etwas ist längst überfällig.

Egal, wo man hinschaut, wir leben in einer Zeit, wo jeder zum Verlierer wird. Materiell und als Mensch.“

Dann geht sie. Arm wirkte sie nicht. Im Gegenteil.

Den Protestlern hat sie einen 20-Euro-Schein in die Hand gedrückt.

Für Essen. Und dafür, dass sie demonstrieren.

Zur Gruppe vor der HSH Nordbank gehört Sascha  (33).

Seit  dem  ersten  Tag  der  Aktion, seit  dem   15.  Oktober,  ist  er  dabei.

Nach  der Demonstration  auf dem  Rathausmarkt,  zu  der mehr als 5.000 kamen (also mehr als ZB zu einem ,,Rockspektakel“), schlug er sein Zelt hier auf: „Ich bin hier, weil es an der Zeit ist Farbe zu bekennen.  Ich  bin  einer  von  vielen.  Einer  von  99  Prozent.“

Damit bezieht er sich auf den Slogan der weltweiten Bewegung.  99  Prozent.

Denn  der  Großteil  der Bevölkerung  ist  unter  Druck  geraten.

Weltweit. Sicherheit  gibt  es  nicht  mehr.

Weil  ein  Prozent Mist baut, aus Gier. Ein Prozent entscheidet über radikalen   ]obabbau,   sozialen   Kahlschlag,   über Wirtschafts- und Finanzchaos.

Ein Prozent spielt mit der Welt Roulette, 99 Prozent bekommen die Folgen zu spüren.

Immer mehr. Ein Prozent verfügt beispielsweise in den USA über 40 Prozent allen Reichtums – und ihr Hunger auf mehr ist so groß wie der von Raubtieren.

Die Spur zieht sich über den Globus.

Egal, wo, die Menschen haben einfach genug davon, sagt Sascha.

Er und seine Frau sind berufstätig: „Wir sind normale Bürger, die erkannt haben. Wie wir unter dieser Gesellschaft leiden. Den Wahnsinn verfolge ich schon seit Jahren. Doch jetzt reicht es.“

Die wirkungsvollen Proteste der Bevölkerung in  Spanien  hat  er  in  den  Medien  gesehen,  die  erstaunliche  Aktion  im  Liberty-Park  nahe  der New  Yorker  Wallstreet,  aus  der,  vor  allem  durch das Internet, die Massenbewegung Occupy wurde.

An  der  Elbe  gehörte  Sascha  zu den  ersten‚  die sich  als  Occupy  Hamburg  organisierten:  „Wir sind  die  unterschiedlichsten  Menschen  mit  unter- schiedlichsten Ideen. Aber es geht allen um dieselbe Sache.  Jeder  ist  kreativ,  niemand  lässt sich  etwas diktieren.“

Auf dem  Rathausmarkt hatte  Sascha beispielsweise  eine  der vielen  Ideen:  „Ich  nahm einen Dollar-Schein, klebte ihn mir über den Mund. Ein anderer klebte sich einen  100-Euro-Schein  über die Augen. Die Botschaft ist klar: Der Dollar verbietet mir das Mundwerk der Euro folgt dem Dollar und ist blind.“

Das Zeltlager vor der HSH Nordbank gehörte auch zu einer der vielen Ideen. Spontan. Überzeugt. Und offenbar auch überzeugend.

Christine (36): Mich fasziniert vor allem, wie, wie viele Menschen auf uns zukommen, es gut finden, was wir machen.  Die  unterschiedlichsten  Leute  sind  das. Viele,  von denen man das nicht gedacht hat. Kürzlich war ein Rentner hier. Der sagte mir: ‚Es ist super.  was ihr macht. Eigentlich habe ich euch junge Leute schon abgeschrieben  und dachte,  ihr hängt nur vor dem Rechner rum und macht Party.  Und jetzt kommt ihr. Wäre ich noch jünger, ich wäre sofort dabei.  Es gibt nur Sympathien. Noch keiner, der an uns vorbei ging oder mit uns sprach, reagierte ablehnend.“

Und  auch  unter  den  Mitarbeitern  der  HSH Nordbank gibt es welche, die am Morgen, wenn sie den Eingang betreten, kurz zu den Protestlern rüberblicken und schnell wie unauffällig mit einem Lächeln den Daumen nach oben halten.

Für Sascha ist das nicht verwunderlich  ‚Jeder ist ein  Opfer dieses System. Auch Menschen wie Angela Merkel. Sie haben Angst – und sie wissen es. Eigentlich sind alle bereit für den Wechsel.“

Die Kanzlerin ließ über Regierungssprecher  Steffen  Seibert  erklären, die  Regierung  nehme  die  Proteste  sehr  ernst: „Darin drückt sich eine tiefe Sorge aus und auch ein  berechtigtes Gerechtigkeitsverlangen der Menschen.“

Und  selbst  der  knurrige Bundesfinanzminister Wolfgang   Schäuble  (CDU)  sagte,  dass  die Politik nun beweisen müsste, dass sie die Regeln setzt und nicht von der Wirtschaft bestimmt wird. Schöne  Worte,  schön  kalkuliert.  Denn  seit den   Bürgerprotesten   in   Stuttgart,   nach   dem Aufbegehren gegen die Atomkraft und der Wahl neuer politischer Gruppen wie der Piratenpartei wissen die etablierten Politiker, dass Occupy keine lahme Mähre ist, sondern ein Rennpferd  das in rasantem Tempo Veränderungen bewirken kann.

Occupy  ist nicht  greifbar,  nicht angreifbar.

Alte Regeln  gelten nicht mehr.

Das  große Wort von Verantwortung wird neu geschrieben.

Regierende und Funktionäre, Banken- und Konzernchefs: Jetzt stehen sie in der Verantwortung.

Und vielen gefällt das nicht.

Occupy ist in erster Linie  ein Protest gegen das  Finanzsystem.

Gegen  das  weiterhin  bestehende  provisionsgetriebene  Handeln  bei  Banken, das  risikofreudige Spekulieren an der Börse,  das  Abzocken von Anlegern, gegen Milliardenverluste auf  den   Rücken   von   Kunden,   Kreditnehmern oder allen, die an eine Altersversorgung glaubten.

Gleichzeitig richtet sich der Protest aber auch gegen die kleine  Elite der Reichen und Mächtigen.

Sie sollen  daran  erinnert werden,  wem  sie  Geld  und Einfluss  verdanken.

Und  während  immer  mehr Menschen   auf  der  Welt   unter   finanziellen   und sozialen Druck geraten,  soll die Minderheit,  die davon profitiert auch Grenzen erleben – und für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden.

Sascha: „Erstmals geht der Widerstand nicht von einem Lager aus. Die unterschiedlichsten Menschen beteiligen sich.  Weil es um die Menschen geht. Die Menschen  haben  sich  lange ‚danach gesehnt  Und Occupy  ist ihre Plattform.“

Öfter   schaut   ein   Polizist   im  Zelt-Lager in  der  City vorbei.

Freundlich  fragt  er,  was  ertun,  wie  er  helfen  kann.  Von  Abneigung  keine Spur.

Selbst  das  Bezirksamt-Mitte  gibt  Ruhe. Der schlagzeilenfreudige  Amtschef Markus Schreiber  hatte  zunächst  offenbar  ein  Problem mit den Kampierern von Occupy.

Jetzt werden sie geduldet.  Hat  Schreiber plötzlich  Fingerspitzengefühl entdeckt oder wurde er von seiner Partei, der  SPD,  die  Hamburg regiert,  zurückgepfiffen?

Gerade  wird von  einer nahegelegenen  Bäckerei- Filiale  Kuchen gebracht.

Ein  großer Karton voll – für den Protest.

Stephan: „Wir bekommen viele solcher Sachspenden, auch Geld. Selbst aus der HSH Nordbank  ließ  uns jemand  heißen  Tee  bringen. Manchmal  sind  schon  Angestellte   von  anderen Banken oder Finanzdienstleistern zu uns gekommen und haben gesagt, dass sie hinter uns stehen. Es ist großartig, die Dynamik zu merken, zu sehen, dass immer mehr Menschen dazu kommen.“

Mit dabei ist auch Plänky (37). Normalerweise lebt der Hamburger in einem Bauwagen:  „Ich habe Ein Leben,  dass ein  bisschen  anders  ist.  Doch  diese Form von Protest ist auch neu für mich. Ich habe mich  zuletzt vor etwa  zehn Jahren  so  engagiert.“

Christine sagt: „Klar, angenehm ist es sicher nicht, bei diesem Wetter hier zu übernachten.  Wer verlässt schon gerne den Komfortbereich. Ich habe es getan. Und es werden immer mehr.“

Ein alter Song von Rio Reiser fiel ihr kürzlich wieder ein –  „Der Traum ist aus“.

Christine: „Der trifft ganz gut, was gerade  passiert.“

Am Abend sind es ein paar Zelte mehr geworden vor der HSH Nordbank.

Die Temperaturen sind weiter gesunken.

Gerade wird ein Live-Stream der Demonstranten über das Internet verschickt.

Den Strom  dafür hat  ein  benachbartes  Kaffeehaus  zur Verfügung gestellt.

Einer der Occupy-Gruppe trägt eine Maske.

Er möchte anonym bleiben.

Die Maske mit Spitzbart ist eine Anlehnung an Guy Fawkes. 

Er war ein englischer Offizier, der am 5. November 1605 ein Attentat auf den englischen König Jakobs I. versuchte.  Aus  Protest  gegen  die  Obrigkeit.

1982  kam  ein  Comic  namens  „V  wie  Vendetta“ auf den  Markt.

Ein  als  Fawkes  verkleideter  Re-voluzzer   kämpft   darin   gegen   die   Regierung.

Der  Gruppe  Anonymous  dient  die  Maske  als Erkennungszeichen  und  schützt  gleichzeitig  die eigene Identität.

Auch im Internet beteiligen sich immer mehr Menschen an den Occupy-Aktivitäten. Einer der Vorschläge:

Geldnoten  mit  dem  Wort  Occupy beschriften.

Die  Scheine  werden  dann  zwar  als Zahlungsmittel wertlos müssen aber von Banken zurückgenommen werden.

So besetzt Occupy auch das  Innerste  der  Finanzwelt.  Viele  finden  solche Ideen gut.

Einer schreibt im Netz: „Ist zwar nicht unbedingt ganz legal. Aber wirkungsvoll.  Und ein Wort auf einem Stück Papier verletzt niemanden. Wir  geben  so  einfach  zurück,   was  99  Prozent genommen wurde.“

Occupy.  Die  Wut-Welle  wächst.

Sie  trifft  den Puls  dieser  Zeit.

Occupy  ist  eine  Besetzung.

Von  Themen,  von  Plätzen,  von  Herzen.  Kreativ, gewaltlos – und   offenbar   überzeugend.

Laut dem  globalisierungskritischen  Netzwerk  Attac versammelten  sich  am  15.  Oktober  in  deutschen Städten rund 40.000 Menschen.

Seitdem werden es immer mehr.

 

Occupy und Occupy Hamburg im Internet:
http:/lwww.occupytogethercrg
http:l/occupyhamburgsvordpresscom   https://www‚facebook.com/
OccupyI.Iamburg http://twitter.com/i‘!lOccupyHamburg

 

ox 11/2011

 

 

 

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