Die schwärzeste weiße Stimme Amerikas
Sein Leben war lange Zeit von Pleiten, Pech und Pannen bestimmt. Zuletzt wurde der in Europa gefeierte Sänger an der Wirbelsäule operiert. Nun geht er mit seiner deutschen Begleitband
Engerling und einem neuen Album auf Jubiläums-tournee. Olaf Neumann sprach mit ihm für OXMOX.
Urwüchsig und unkaputtbar. Nebeliges, lauerndes Vibrato. Eine gewaltige Reibeisenstimme, die geradewegs aus den Tiefen der Hölle zu kommen scheint. Mitch Ryders Stimme wurde mit vielen Attributen belegt. Und dennoch ist die Faszination dieses Organs kaum fassbar.
Der Sänger hat den Rock’n’-Roll. Eigentlich heißt er William Sherille Levise und wurde am 26. Februar 1945 in der Kleinstadt Hamtramck bei Detroit geboren. Seine erste Single veröffentlichte er als 17-jähriger Teenager auf einem Gospellabel unter dem Namen Billy Lee & The Rivieras. Er war der einzige Weiße in einer Band voller Afroamerikaner. 1965 gelang ihm in den USA mit „Jenny Take A Ride“ der erste von zahlreichen Top-Ten-Hits. In seiner Musik verschmolzen der Sound von Motown, puristischer Soul à la James Brown und der ursprüngliche Rock’n’Roll der 1950er. Später ging er mit dem großen Wilson Pickett auf Tournee und war dabei, als Bob Dylan den Klassiker „Highway 61 Revisited“ aufnahm.
Bis 1968 hatte Mitch Ryder mit seiner damaligen Band The Detroit Wheels vier Millionen Platten verkauft. Seine 2012 er-schienene Autobiografie „Devils And Blue Dresses: My Wild Ride As A Rock And Roll Legend“ erzählt auch die Geschichte des Michigan-Rock. Die Atmosphäre im Detroit der 1960er Jahre beschreibt er als explosiv. Der Sänger war umgeben von Heavy-Metal- und Punk-Pionieren wie Iggy Pop & The Stooges, The MC5, Alice Cooper.
Doch das Rock-Jahrhunderttalent ließ sich Ende der 1960er von einigen mächtigen Menschen im Musikbusiness zu einer Solokarriere überreden – ausgerechnet als Nachtclub-Crooner à la Sinatra in Las Vegas. Der Ausflug in seichtere Gewässer mit Schmusenummern wie „What Now My Love“ geriet zum Fiasko. Am Ende saß Ryder auf drei Millionen Dollar Schulden und hatte ein gravierendes Alkohol- und Drogenproblem. In seiner Autobiografie beschreibt er, wie John Lennon ihn davor bewahrte, Selbstmord zu begehen und wie Jimi Hendrix ihm neuen Mut zusprach.
„Jimi spielte mit dem Gedanken, die Experience aufzulösen und fragte mich, ob ich Lust hätte, in einer neuen Gruppe zu singen“, erzählt Ryder. „Ich sagte Nein. Jimi starb dann ein Jahr nachdem er die Band Of Gypsies gegründet hatte. Es wäre also eh ein kurzer Job gewesen“. Warum lehnt man solch ein lukratives, Ruhm versprechendes Angebot ab?
„Nun, das geringste Übel wäre gewesen, dass ich mächtigen Ärger mit meinem Manager bekommen hätte. Liest man mein Buch genau, wird man verstehen, dass dieser Mann jede Facette meines Daseins in der Welt des Entertainment kontrollierte. Er verhätschelte mich wie einen Hollywoodstar, er suchte meine Kleidung aus – einen Alleingang für eine Platte auf einem anderen Label hätte er niemals geduldet. Zudem war ich loyal gegenüber meiner eigenen Band. Wir kamen alle aus Detroit. Ich habe eigentlich immer moralisch gehandelt“.
Hätte Ryder sich damals tatsächlich mit Jimi Hendrix zusammen getan, sähe die Rockgeschichte heute anders aus. Bereut er sein Nein rückblickend?
Ryder schweigt eine kleine Ewigkeit, um dann zu sagen: „Hmm. Ich begreife immer noch nicht, wie wunderschön Hendrix Gitarre spielten konnte. Eines Nachts nahm er mich mit auf sein Hotelzimmer, um mir die Demos für sein nächstes Album „Axis: Bold As Love“ vorzuspielen. Er war unheimlich gespannt, meine Meinung zu hören. Die Gitarren in den Songs hatte er so arrangiert, dass sie den Raum umkreisten. Jimi hatte sein Hotelzimmer zu einem kleinen Studio umgebaut mit all diesen Lautsprechern. Ich habe nie verstanden, weshalb er seinen eigenen Gesang nicht mochte. Wie kam er überhaupt darauf, einen anderen Sänger zu brauchen? Für mich war seine Stimme einzigartig. Warum sollte ich also seine Songs interpretieren.“
Anfang der 1970er verschwand Mitch Ryder von der Bildfläche und schuftete eine Zeitlang in der Automobilindustrie als Bandarbeiter. 1979 gelang ihm schließlich ein grandioses Comeback in der alten Welt – durch einen Fernsehauftritt im deutschen „Rockpalast“ des WDR, einer nächtlichen Live-Sendung, die in ganz Europa übertragen wurde und einer Titelstory in Deutschlands meistgelesenem Stadtmagazin OXMOX. Für das Hamburger Label Line Records nahm er in der Folgezeit zahlreiche Alben auf, die sich in Deutschland besonders gut verkauften.
1983 wollte Mitch Ryder auch in seiner Heimat wieder einen Fuß in die Tür bekommen. Dabei sollten ihm John Cougar Mellenkamp, Marianne Faithfull und Prince helfen. Doch der ambitionierte Mainstreamrock von „Never Kick A Sleeping Dog“ floppte. Mellencamp und Ryder arbeiteten trotzdem an einem weiteren gemeinsamen Projekt. Jedoch sollte es nie vollendet werden.
Seit 1994 ist Ryder nun mit der deutschen Band Engerling in Europa unterwegs, die sich auch schon seit 49 Jahren dem Rock und Blues verschrieben hat. 2024 jährt sich diese erfolgreiche Zusammenarbeit zum 30. Mal. Das Jubiläum soll mit einer umfangreichen Tournee und dem neuen Live-Doppelalbum „The Roof is on Fire“ gebührend gefeiert werden.
Einer von Ryders jüngsten Songs heißt „Old“. Seine Stimme ist etwas brüchiger geworden, aber die Nummer groovt und hat ein jazziges Ambiente. Er singt: “I ain‘t old, I am just dying” (Ich bin nicht alt, ich sterbe nur).
Wie geht der fast 78-Jährige mit dem Älterwerden um? „Jeder muss damit umgehen“, sagt er. „Es ist also kein Schock. Es kommt ja nicht unerwartet. Wir wissen, dass es kommen wird, aber wir wissen nicht, wann. Ich weiß, dass meine Zeit noch nicht gekommen ist, weil ich wieder auf Tournee bin. Ich singe. Aber ich habe Schwierigkeiten beim Gehen, weil ich an der Wirbelsäule operiert worden bin.“
Vor einiger Zeit ist er mit seiner Frau Megan umgezogen – von Michigan nach Georgia. Das Lebensgefühl des US-Südens reflektiert das Studioalbum „Georgie Drift“ von 2023.
„Wir sind nach Georgia gegangen, weil meine Frau von dort stammt“, erzählt der Sänger. „Ihr Vater war ein Pfarrer, ein Prediger im Süden. Sie wuchs mit ihren Schwestern und einem Bruder im selben Haus auf und wollte jetzt wieder näher bei ihrer Familie sein. Unsere Kinder sind inzwischen erwachsen, und es gab keinen Grund mehr, in Detroit zu bleiben, außer vielleicht wegen der Musik“.
Das Überraschende: Als Ryder in Georgia ankam, war er überwältigt von den Klängen und dem Stil der Musik, die dort gespielt wird. Da sagte er zu sich selbst: „Nun, das ist anders, das ist neu. Ich liebe Herausforderungen mehr als alles andere“.
Der vielseitige Sänger sieht sich keinem bestimmten Stil verpflichtet – gerade in der Neugier, Offenheit und auch im Mut, stilübergreifend zu arbeiten, liegt seine Stärke. „Wenn man sich mein gesamtes Material anhört, sieht man, dass ich alle Arten von Musik ausprobiere. Denn ich will kein Fachmann sein. Wir hatten viel Zeit, um dieses Album zu machen, weshalb es auch so gut klingt. Wenn man für ein Label arbeitet, bekommt man ein Budget. Sie geben dir in der Regel eine bestimmte Anzahl von Wochen, um etwas zu machen, aber für uns gab es kein Zeitlimit. Ich konnte die Aufnahmen mit nach Hause nehmen und analysieren. Ich konnte über Änderungen nachdenken und es besser und besser und besser machen“.
Mitch Ryder sieht sich zwei sehr unterschiedlichen Zielgruppen gegenüber: Amerikanische Fans schwelgen zu seinen gecoverten Hits aus der Motown-Ära gern in Erinnerunge. Europäer sehen in ihm einen eigenständigen Sänger und Songschreiber, einen Pionier des energiegeladenen Hardrock. Seine Konzerte in der Heimat dauern maximal 90 Minuten, in Europa hingegen lässt man den Performer erst von der Bühne, nachdem er auch seine aktuelleren Songs gespielt hat. Und das kann bis zu zweieinhalb Stunden dauern.
Mitch Ryder: „Ich bin hier seit 1979 auf Tournee gewesen, das verdanke ich der Rockpalast-Sache. Aber dann kam die Pandemie, und ich hatte meine Operationen. Aber jetzt bin ich endlich wieder in Deutschland, was ich wirklich liebe“.