Die Gefühls-Rocker
Sie spielen beinharten, experimentierfreudigen Alternative-Metal und haben weltweit 30 Millionen Tonträger verkauft. Die Rede ist von Slipknot (Henkersknoten) aus De Moines im US-Bundesstaat Iowa. Nun legt die neunköpfige Band mit “The End, So Far“ ihr siebtes Studioalbum vor. Die zwölf Metal-Hymnen, düsteren Klagelieder und Power-Balladen drehen sich um brennende Themen wie moderne Medien, Manipulation und Fake News. Von Slipknot-Schlagzeuer Jay Weinberg erfuhr Olaf Neumann die Band-Philosophie, wie es sich anfühlt, in Wacken zu spielen und wie es ist, mit Bruce Springsteen auf Tour sein
In “The Chapeltown Rag” and “The Dying Song (Time To Sing)” zeigen sich Slipknot von ihrer härtesten Seite, aber auch sonst sind die musikalischen Anknüpfungspunkte auf “The End, So Far” sehr vielseitig. Kommt es bei Ihrer Musik sehr auf Details an?
Jay Weinberg: Ja, der Teufel steckt immer im Detail. Soweit wir es kontrollieren können, wollen wir in jeden winzigen Aspekt dessen, was wir tun, involviert sein. Denn uns liegt viel an unserer Musik. Beim Schreiben und beim Aufnehmen versuche ich wirklich herauszufinden, wie ich mich als Künstler, Schlagzeuger und Bandmitglied weiterentwickeln kann. Ich nerve unseren Produzenten, ich muss diese eine kleine Geisternote in der Strophe dieses Songs genau so hinbekommen, wie ich sie in meinem Kopf höre. Und ich bin erst dann zufrieden, wenn sie auf diese Weise eingefangen wurde. Wahrscheinlich nehmen wir neun unsere Musik auf die gleiche Weise auf.
Slipknot ist eine Band, die aus neun Individuen besteht. Haben Sie sehr verschiedene Ansichten?
Oh ja, wir sind neun sehr unterschiedliche Menschen. Das ist einer der Gründe, warum unsere Musik so interessant ist. Wenn wir zusammenkommen, gibt es eine Sache, die wir alle verstehen – und das ist Slipknot. Wir lassen uns von vielen verschiedenen Dingen inspirieren, von Musik, Film, Fotografie, Kunst und dem Leben. Auf diesem Album gibt ein traditionelles, fettes, lautes und schweres Slipknot-Element, aber wir wollten diesmal die Extreme so richtig ausreizen. Wir wollten wirklich aus unserer Komfortzone ausbrechen.
Versuchen Sie als neunköpfige Band immer sicherzustellen, dass Sie viel miteinander reden, um durch Ihre Musik miteinander verbunden zu bleiben?
Eigentlich ist das Gegenteil der Fall: Wir sprechen nicht darüber, wir lassen die Musik diese unausgesprochene Wirkung zwischen uns haben. Ich kann zum Beispiel Clowns Gedanken hören, während er im Studio spielt. Und andersherum. Das erlaubt es jedem von uns, sich frei auszudrücken. Oder Sid als DJ in dieser wilden und verrückten Metalband. Das Tolle an uns ist, dass wir uns gegenseitig sehr aktiv zuhören und uns den Raum für eigene Beiträge geben. Der Kreis schließt sich nur, wenn alle neun dabei sind. Beim ersten Song auf der Platte bin ich einfach zur Seite getreten und habe Clown das Schlagzeug spielen lassen. Er ist perfekt, so wie er ist. Wenn ich diesem Song etwas hinzugefügt hätte, würde er matschig klingen. Solche Entscheidungen sind auch sehr wichtig. Man lässt die Musik einfach so sein, wie sie sein will.
Joe Barresi (Soundgarten, Queens Of The Stone Age, Nine Inch Nails) war als Produzent an der Seite der Band tätig. Wie schafft er es, all die kreative Energie zu bündeln?
Wir sind keine Band, mit der es einfach ist zu arbeiten, besonders bei unserer ersten Platte mit Joe. Als Produzent musste er dafür sorgen, dass alle an einem Strang ziehen, besonders bei der Art von Musik, die wir machen. Es gibt im Studio so viel zu tun, dass man sich leicht verirren kann. Aber Joe hat uns auf großartige Weise gecoacht. Ich wollte gepusht werden und habe mich am Schlagzeug an Dinge gewagt, die ich vorher noch nie gemacht habe.
Wissen Sie eigentlich viel über Musik-Theorie?
Nein, ich kann überhaupt keine Noten lesen. Ich spiele alles nach Gefühl, ich komme aus einem Umfeld von Progrock, Heavy Metal und Hardcore. Noten lesen ist ein großes Talent, aber nichts, was ich mir aneignen konnte. Meine Lieblingsschlagzeuger sind Leute, die ihren Stil selbst entwickelt haben. Es gibt technische Dinge, in denen man gut sein will, aber es ist wichtiger, dass es sich echt anfühlt und zu mir passt. Es ist mir egal, ob ein Schlagzeuger auf einer Musikschule war. Wir spielen aus dem Gefühl heraus, denn Slipknot ist eine Gefühlsband. Wenn du uns live hörst, siehst du nicht, wie ich ein Schlagzeugsolo absolut perfekt hinbekomme, sondern es geht eher darum, dass wir selbst und das Publikum etwas fühlen.
Wo ist der Punkt, an dem alle neun Bandmitglieder sagen: Ok, der Song ist jetzt fertig. Gibt es diesen Punkt überhaupt?
Wenn wir wirklich frustriert sind und einfach keine Lust mehr haben, weiter daran zu arbeiten. Es ist ähnlich wie bei einem Malers. Er weiß nicht wirklich, wann das Bild fertig ist. Der Moment, in dem es fertig ist, ist der, in dem er es ansieht und es ihm ein Gefühl gibt, als würde er endlich auf einer Leinwand sehen, was er schon immer sehen wollte. Mit einem Musikstück verhält es sich genauso. Wir wissen, dass ein Song fertig ist, wenn wir spüren, dass die Emotionen zu uns zurückkommen: “Hey, das ist alles, was ich aus diesem Song herausholen will!” An “Medicine for the Dead” etwa haben wir seit 2014 gearbeitet. “Hivemind” hingegen war in zwei Stunden fertig geschrieben. Oft lachen wir, wenn wir uns einen aufgenommenen Song noch einmal anhören. Das ist der Moment, in dem er fast fertig ist, weil das Stück so verrückt ist, dass die einzige Reaktion darin besteht, zusammenzubrechen und zu lachen. In dem Moment weiß ich, ob etwas wirklich gut ist.
Der düstere Song „The Chapeltown Rag“ wurde nach dem britischen Serienkiller Peter Sutcliffe benannt, der vor allem als “The Yorkshire Ripper” bezeichnet wurde. Hat der Inhalt eines Stücks eigentlich einen Einfluss auf Ihr Schlagzeugspiel?
Ich denke schon, ja. Das Schlagzeugspielen ist ein emotionales Ventil. Ich fasse meine Gedanken nicht in Worte, das ist Coreys Aufgabe, aber die Instrumentierung trägt eine Energie mit sich. Ja, man kann Schlagzeug auf eine dunkle, emotionale, fröhliche oder wütende Weise spielen. Auf die Felle zu hauen ist wie eine große Erleichterung. Durch die Arbeit an unseren Instrumenten kann unser Sänger Corey diese Energie aufnehmen und sie in Texte umsetzen. Auf diese Weise findet man den Sound, der einem gefällt.
Wie war es eigentlich, das neue Material beim Wacken-Festival vorzustellen?
Fantastisch! Es war toll für uns, zum ersten Mal auf dem legendären Wacken-Festival zu spielen. Es war eine Ehre, inmitten all der Bands dabei zu sein. Und eine fantastische Gelegenheit, das neue Material vorzustellen.
Ist die Atmosphäre in Wacken wirklich einzigartig?
Die Energie dort ist definitiv sehr groß! Wir hatten das Gefühl, dass wir Teil von etwas sind, das noch größer ist, als wir es vielleicht erwarteten. Wenn man in Wacken ankommt, sieht man eine nicht enden wollende Menge an schwarzen T-Shirts. Diese Leute sind so leidenschaftlich, wenn es um diesen Musikstil geht. Das hat uns wirklich dazu gebracht, unser Bestes zu geben. Wir repräsentieren nicht nur uns selbst oder Slipknot, wir repräsentieren eine ganze Musikrichtung. Ein Festival zu headlinen ist eine große Verantwortung, die wir sehr ernst nehmen. Eine tiefgreifende Erfahrung.
Metal ist vor Jahrzehnten als eine Art von sehr harter Protestmusik entstanden. Können Sie heute noch immer mit ganzer Leidenschaft die harte, rebellische Musik Ihrer Jugend spielen?
Aber sicher. Wir Musiker definieren uns durch die Kunst, die durch uns spricht. Alles, was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt in unserem Leben erschaffen haben, spiegelt diesen Moment wider. Wir haben uns vielleicht emotional von dem ganzen Material entfernt, aber wir erinnern uns immer noch daran, wie es zu diesem Zeitpunkt war. Man kann immer zu seinem früheren Ich zurückkehren, egal ob es zwei oder 20 Jahre zurückliegt. Man kann immer nachvollziehen, warum man einen Song gemacht hat. Aber das wichtigste Material ist das, was du jetzt gemacht hast. Es spiegelt wider, wer man als Person oder als Gruppe von Menschen ist. Alles in allem feiern wir unseren gesamten Katalog als sehr relevant und können immer noch an unser früheres Selbst anknüpfen. Jeder Künstler macht das.
Als Teenager haben Sie Slipknot das erste Mal live erlebt. Eine lebensverändernde Erfahrung?
Absolut! Ich sah Slipknot bereits, als ich zehn Jahre alt war. Wenn man in diesem jungen Alter einem künstlerischen Moloch wie Slipknot ausgesetzt ist, lernt man viel darüber, wer man wirklich ist und was man am Leben mag. Diese Dinge bleiben einem für den Rest des Lebens erhalten.
Haben Sie damals gegen Ihre Eltern rebelliert, indem Sie extreme Musik hörten?
Nein, mein Vater hat mich in diese Musik eingeführt. Ich habe von Slipknot erst durch ihn erfahren. Slipknot war in der Conan O’Brien-TV-Show zu Gast, in der auch mein Vater war. Er erkannte, dass sie eine verrückte Band waren, und so luden sie ihn und seine Familie zu einem ihrer Auftritte ein. Da haben wir sofort Freundschaft geschlossen, weil sie gesehen haben, dass ich ein junger Mensch bin, der sich wirklich für das interessiert, was sie machen. Alles weitere ist eher zufällig gewachsen.
Mit 18 Jahren vertraten Sie Ihren Vater Max erstmals bei Bruce Springsteens E Street Band. Das muss wahnsinnig aufregend gewesen sein.
Ja, auf jeden Fall. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt drei Jahre lang kein Schlagzeug mehr gespielt. Aber dann habe ich jeden Tag geübt und wollte so gut werden, dass Bruce und seine Band mich baten, meinen Vater für ein paar Touren zu ersetzen. Das war eine unglaubliche Erfahrung und hat mich in die Tiefen des Rock’n’Roll mit seinen hohen Einsätzen katapultiert. Eine große Verantwortung für einen 18-Jährigen. Tätschlich war ich erst 17, als ich das erste Mal mit Bruce spielte. Ich bin buchstäblich aus einem Zug gesprungen und habe versucht zu überleben. Und bis heute habe ich das geschafft.
Worauf kommt es an, wenn man mit einem Perfektionisten wie Bruce Springsteen arbeitet?
Ich bin von Leuten umgeben, die genau so sind wie er. Bruce und die E Street Band kommen aus dem gleichen Stall wie Slipknot. Wir spielen immer perfekt und genau so, wie wir es wollen. Man braucht dafür eine bestimmte Einstellung. Auch wenn es klanglich anders sein mag, ist es doch der gleiche Geist.